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Naturparadies Grünhaus darf sich seit 14 Jahren zur Wildnis entwickeln
Ein Schwarzkehlchen pfeift warnend, eine Grauammer huscht davon, und leise schleicht sich jemand an. Nur der Sand knirscht unter seinen Schritten. Mit raschem Griff dreht Stefan Röhrscheid eine grobrissige Platte aus zerfaserter Braunkohle um und zeigt stolz auf seine Beute: Im Sonnenschein erstarrt überrascht ein kleines Insekt. Wenn ein Sandohrwurm blinzeln könnte, dann würde er dies jetzt wahrscheinlich tun, geblendet von der ungewohnten Helligkeit. Sandohrwürmer leben im Verborgenen und dies seit Millionen von Jahren sehr gut. Ihre Vorfahren glitzern in den Bernsteintropfen der Jurazeit. Dieses Exemplar hier ist allerdings quicklebendig. Drohend stellt es seine langen, fast geraden Hinterleibszangen auf, die ihn deutlich vom verbreiteten Gemeinen Ohrwurm unterscheiden. Doch Stefan Röhrscheid schmunzelt. Ohrwürmer, auch Ohrenkneifer genannt, sind für den Menschen und speziell seine Ohren harmlos. Ihr Name verweist auf ihre Verwendung als medizinisches Heilmittel von der Antike bis zur frühen Neuzeit, bei der pulverisierte Ohrwürmer gegen Ohrenkrankheiten eingesetzt wurden.
Vom Tagebau zum Naturparadies
Hier im ehemaligen Tagebaugebiet bei Finsterwalde will dem kleinen Kerl aber niemand an den Kragen. „Der Sandohrwurm ist einer der ganz speziellen Bewohner in Grünhaus“, erklärt Stefan Röhrscheid, der das NABU-Naturparadies in der Niederlausitz seit 2003 betreut. In Deutschland ist die Art nur vereinzelt in feuchten, sandigen Böden naturnaher Flussufer oder Binnendünen zu finden. Die Weite und die Offenheit ehemaliger Bergbaufolgelandschaften bieten ihr hochwillkommene Ersatzlebensräume. „Auch Brachpieper, Wiedehopf, Schwalbenschwanz und Wiener Sandlaufkäfer haben hier eine neue Heimat gefunden“, zählt Röhrscheid auf. Diese und andere seltene und in der Kulturlandschaft bedrohte Arten gaben 2003 den Ausschlag für die NABU-Stiftung Nationales Naturerbe, große Teile des ehemaligen Tagebaugeländes zu kaufen. In ihrer Obhut kann sich das rund 20 Quadratkilometer große Gelände als Wildnis entwickeln, aus der sich der Mensch so weit wie möglich zurückzieht. „Mit Grünhaus haben wir das erste Mal gezeigt, was wir für die Natur leisten können: überregional bedeutsame Lebensräume als NABU-Eigentum bewahren und entwickeln“, berichtet Röhrscheid.
Wildnis braucht Zeit
Gerade Wildnisgebiete wie Grünhaus sind auf Zeiträume von Jahrzehnten und Jahrhunderten angewiesen. Wo beim Kauf 2003 der Blick noch frei schweifte, sind seitdem Kiefern- und Birkensamen gekeimt und junge Bäume herangewachsen. Ehemals trockene Kohlelöcher und Senken füllten sich mit Wasser. Jedoch wird es eine Weile dauern, bis hier die ersten Fische vorkommen. Denn als Folge des Bergbaus sind viele vom Grundwasser gespeiste Seen in Grünhaus noch zu sauer für die Tier- und Pflanzenwelt. Damit sich die Gewässer auf natürliche Art erholen, wird auf die in der Bergbausanierung übliche Kalkung verzichtet. So bleiben die Seen langfristig nährstoffarm und können sich als Lebensraum für seltene Spezialisten entwickeln. „Einfach Natur wieder Natur sein lassen, das war unser Ansatz von Anfang an. Aber dessen Umsetzung war schwieriger, als wir anfangs dachten“, räumt Röhrscheid ein.
In den bergrechtlichen Sanierungsplänen waren beispielsweise vielerorts aufgeforstete Waldflächen vorgesehen. Die ungenutzte Wildnis der offenen Sandflächen und ihre speziellen Bewohner wären so weiträumig verschwunden. Stefan Röhrscheid verbrachte deshalb viel Zeit damit, sich mit den Behörden vor Ort abzustimmen, um die in den Sanierungsplänen vorgeschriebenen forst- und landwirtschaftlichen Nutzungen zu verhindern. Davon profitierten aber nicht nur Spezialisten wie der Sandohrwurm. Heute leben in Grünhaus über 3.000 Tier- und Pflanzenarten, und jedes Jahr werden es mehr. Allein 220 Pilzarten erfassten die ehrenamtlichen Naturbeobachter, darunter so seltene wie die Kleinsporige Wiesenkeule oder den Nelkenförmigen Warzenpilz. Und auch ein Wolfsrudel hat sich mittlerweile in dem Wildnisgebiet niedergelassen und 2016 zum zweiten Mal Welpen aufgezogen. „Als Stiftung sorgen wir für einen dauerhaften Schutzschirm, der Grünhaus und seinen großen und kleinen Bewohnern langfristige Perspektiven bietet“, versichert Röhrscheid und blickt dabei versonnen auf den Sandohrwurm, der sich suchend nach einem neuen Versteck umsieht. Auch 2017 lässt sich auf den geführten Wanderungen des Projektbüros Grünhaus erleben, wie sich der derzeit noch gesperrte Tagebau langsam zu einer abwechslungsreichen Landschaft aus jungen Wäldern, Seen und sandigem Offenland verwandelt. So ist auch für speziell angepasste Arten wie den Sandohrwurm gesorgt, den Stefan Röhrscheid jetzt wieder sorgsam mit dem Braunkohlestück bedeckt.
Frauke Hennek
Mehr zu Grünhaus unter www.gruenhaus.org
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