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Trendwende zugunsten von Klima und Artenvielfalt
Das Verschwinden von Arten ist auch ein Warnzeichen dafür, dass die Leistungsfähigkeit unserer Ökosysteme verloren geht. So fehlt es an Bestäuber-Insekten in der Landschaft, an Vögeln und Insekten, die Schadinsekten auf natürlichem Weg in Schach halten, an Erosionsschutz, wo Hecken und Säume verschwunden sind, an der Fähigkeit der Wälder, Hitzewellen abzupuffern, dort wo alte Bäume und Totholz verschwinden. Die Folgen des Klimawandels sind ein weiter massiver Stressfaktor für Arten und Landschaften und werden zu weiterer Verarmung führen.
Kompass für die Wende
Die Herausforderungen in der Bewältigung der beiden Krisen von Biodiversität und Klima sind groß. Doch es gibt Lösungen. Im sogenannten NABU-Kompass, der auf der Bundesvertreterversammlung 2020 von den Delegierten diskutiert und verabschiedet wurde, skizziert der NABU seinen Weg raus aus den Krisen. Maxime dabei ist: Artenreiche Landschaften müssen ihre Ökosystemleistungen erbringen können, die wir in Zeiten der Klimakrise dringender denn je brauchen – ob naturnahe, ländliche oder städtische Gebiete, Binnengewässer oder Meere. Wir setzen uns dafür ein, dass die Natur erhalten bleibt und sich entwickeln kann.
Spätestens mit dem Zusammenbruch großer Waldflächen in den letzten drei Jahren ist der Ernst der Lage offensichtlich geworden. Wir brauchen eine sofortige und messbare Trendwende zugunsten von Arten und Ökosystemen in Deutschland. Dies ist auch der Tenor der Strategien der Europäischen Kommission, die im Mai 2020 die EU-Biodiversitätsstrategie und die Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ als Kernelemente ihres „Green Deal“ vorgelegt hat.
Von früheren Erfolgen lernen
Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind enorm, aber dies sollte uns nicht hindern, sie entschieden anzugehen. Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, wie Natur- und Artenschutz eine tiefgreifende Wirkung entfalten können. So hat sich die biologische Gewässergüte von Bächen und Flüssen seit den 1970ern massiv verbessert. Innerhalb einer Generation wurden aus hochgradig verschmutzten Flüssen wieder Badegewässer, in die auch Fischotter und Lachs zurückkehrten. Nachdem das hochgiftige Pestizid DDT verboten wurde, konnte sich die Population des Wanderfalken erholen und durch den Stopp der direkten Verfolgung erholten sich Wolf, Luchs, Biber und Graureiher.
Armenhaus Natur: zwei Drittel der zu schützenden Arten in „ungünstigem Erhaltungszustand“
In den letzten Jahren und Jahrzehnten waren wir alle Zeugen beispielloser Verarmung unserer Landschaften und ihrer Artenvielfalt. Die Zahlen sind alarmierend: Allein zehn Millionen Brutpaare sind bei Kiebitzen, Feldlerchen, Rebhühnern, Goldammern und anderen Feldvögeln in den letzten 40 Jahren verschwunden. Bei den Insekten tummelt sich nach einer Studie der TU München heute ein Drittel weniger Arten als noch vor zehn Jahren. Und der „Bericht zum Zustand der Natur 2020“ des Bundesamtes für Naturschutz kommt zu dem Schluss, dass mehr als zwei Drittel der zu schützenden Arten sich in einem ungünstigen Erhaltungszustand befinden und fast die Hälfte der Lebensräume einen negativen Entwicklungstrend hat.
Die Ursachen dafür sind bekannt: Die Intensivierung in Land- und Forstwirtschaft, der Flächenhunger von immer mehr Bau- und Gewerbegebieten und Straßen, ein vielerorts nicht naturverträglicher Ausbau erneuerbarer Energien haben die Landschaften eintöniger gemacht. Die Strukturvielfalt aus kleinen Gewässern, feuchten Senken, Streuobstwiesen, Waldrändern, Hecken, Wegrainen, Blühstreifen und Brachen in der Agrarlandschaft ist vielerorts verschwunden, und in den Wäldern ist der Umbau von Fichtenmonokulturen zu gemischten Wäldern nicht entschieden genug vorangetrieben worden. Zusätzlich werden unsere Ökosysteme durch Nährstoffeinträge aus Landwirtschaft, Verkehr und Siedlungen, Pestizideinträge vor allem aus der Landwirtschaft, Mikroplastik aus Kläranlagen und Verkehr und vielem mehr weiterhin stark belastet.
Zusätzliche Belastung verursacht der Klimawandel. Die in vielen Teilen Deutschlands deutlich zu trockenen letzten Jahre haben Gewässer, Moore und Wälder stark belastet. Auf mehr als 285.000 Hektar sind Forsten und Wälder dem Trockenstress und einem anschließenden Insektenbefall zum Opfer gefallen.
Natur braucht Platz: Die EU-Biodiversitätsstrategie
Bereits heute stehen ein Viertel der EU-Landfläche und ein Zehntel der EU-Meere unter Naturschutz. Neben nationalen Schutzgebieten macht das europäische Schutzgebietsnetz „Natura 2000“ den Großteil dieser Reservate aus. Nun verspricht die neue EU-Biodiversitätsstrategie für 2030 gleich in ihrem Untertitel „Mehr Raum für die Natur in unserem Leben“. Darin gibt Brüssel als Ziel eine Ausweitung der Schutzgebiete auf je 30 Prozent von Land und Meeren aus.
Darüber hinaus arbeitet man derzeit an einem rechtlich verbindlichen Renaturierungsziel. Bereits verankert ist die Renaturierung von 25.000 Flusskilometern. Wer Aufwand, Kosten und Dauer der vom NABU betriebenen Havel-Renaturierung kennt, darf zumindest am Umsetzungsziel 2030 zweifeln.
Um der Natur außerhalb von Schutzgebieten eine Chance zu geben, sieht die EU-Biodiversitätsstrategie unter anderem eine Halbierung der Pestizidauswirkungen in der Landwirtschaft und eine Ausweitung des Öko-Landbaus auf 25 Prozent vor. Mindestens zehn Prozent der landwirtschaftlichen Fläche sollen für Landschaftselemente wie Hecken oder Blühstreifen reserviert werden.
Vor allem die Konflikte mit der von Politik und Wirtschaft auf Effizienz und die Produktion günstiger Lebensmittel getrimmter Landwirtschaft sind komplex und der zunehmende Klimastress vieler Ökosysteme erhöht den Handlungsdruck. Damit wir bis 2030 die nötige Trendwende erreichen, ist es nötig, längst vorhandene ökologische Erkenntnisse endlich umzusetzen und neue Instrumente und Allianzen zu entwickeln. Bei der Bundestagswahl im September wird es darum gehen, die Weichen für die Trendwende zu stellen. Die Kernelemente lassen sich leicht beschreiben:
1. Erhalten und bewahren
Wir müssen bewahren und erhalten, was an artenreichen und wertvollen Lebensräumen noch vorhanden ist. Weitere Verluste können wir uns nicht leisten. Die bestehenden Schutzgebiete und bislang nicht geschützte Habitate müssen daher unbedingt erhalten und entwickelt werden.
Besonders bitter ist daher die Erkenntnis aus dem offiziellen „Bericht zum Zustand der Natur“: Trotz intensiven Bemühens schützen viele Schutzgebiete bislang nicht, was sie schützen sollen. Unzureichende Verordnungen, intensivierte Nutzung und fehlendes Management führen zum Verlust der Lebensräume und zum Verschwinden jener Arten, für die die Schutzgebiete ausgewiesen wurden. Viele Veränderungen werden wegen des fehlenden Monitorings noch dazu erst sehr spät erkannt.
Die Schutzgebiete müssen als Rettungsnetz für Natur und Artenvielfalt besser geschützt, gemanagt und finanziert werden. Als NABU unterstützen wir auch das Ziel aus der Nationalen Biodiversitätsstrategie von zwei Prozent nutzungs- und managementfreien Wildnis-Landschaften in Deutschland, in denen sich die Ökosystem und Arten unter anderem an den Klimawandel anpassen können.
2. Lebensräume vernetzen
Viele Schutzgebiete und Habitate sind heute so klein und liegen so isoliert, dass sie allein die in ihnen lebenden Arten nicht dauerhaft erhalten können. Um genügend Lebensraum zu bieten und um den genetischen Austausch zwischen Populationen zu ermöglichen, müssen Flächen vernetzt werden. Eine solche „grüne Infrastruktur“ ist auch im Hinblick auf den Klimawandel unabdingbar, da sich mit der Erwärmung die Areale vieler Arten verschieben und für diese Wanderungen Korridore geschaffen werden müssen.
Der NABU setzt sich politisch und mit vielen Projekten für die Renaturierung von Fließgewässern und Auen ein, die stets ein natürlicher Wanderkorridore vieler Arten waren. Im Offenland wollen wir unter anderem mit bei der Neuprogrammierung der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU dafür sorgen, dass auf zehn Prozent der Fläche Gehölzinseln, Hecken, Brachen, Altgrasstreifen und mehrjährige Blühstreifen als Lebensraum und Vernetzungselement geschaffen werden.
3. Renaturieren und wiederherstellen
Viele Landschaften und Ökosysteme sind stark ramponiert oder gar völlig zerstört. Wir wollen, dass dieser Trend durch gezielte Wiederherstellung umgekehrt wird. Die Renaturierung von Grünland, Wäldern, Seegraswiesen, Mooren, Bächen und Flüssen kann der biologischen Vielfalt, dem Klimaschutz und der regionaler Wirtschaftsentwicklung gleichermaßen dienen. Mit gezielten Hilfsprogrammen in den nächsten Jahren muss daher Arten wie Kiebitz, Rebhuhn und Feldhamster geholfen und die Chance zur Rückbesiedlung von Lebensräumen gegeben werden.
Konkret fordert der NABU einen Renaturierungsplan für Deutschland mit dem Ziel der Wiederherstellung von Ökosystemleistungen und Artenvielfalt auf mindestens 15 Prozent der Landes- und Meeresfläche.
4. Naturverträglich nutzen und an den Klimawandel anpassen
Es ist wichtiger denn je, Ökosystemfunktionen und die Lebensräume für Pflanzen und Tiere auf Landschaftsebene zu erhalten. Genutzte Landschaften außerhalb von Schutzgebieten dürfen keine unbelebten Landschaften sein.
Dafür müssen Landwirtschaft, Forstwirtschaft und die Erzeugung erneuerbarer Energien stärker als bisher naturverträglich erfolgen. Belastungen aus Nährstoffüberschüssen und Pestizideinträgen müssen deutlich reduziert werden und naturverträgliche Landnutzung unter den Bedingungen des Klimawandels neu definiert werden. Die Anpassung an den Klimawandel macht es wichtiger denn je, Böden vor Austrocknung und Erosion zu schützen und Wasser durch den Rückbau von Entwässerungssystemen länger in der Landschaft zu halten.
5. Geld für Naturschutz und naturverträgliche Landnutzung
Der NABU fordert angesichts der Dringlichkeit und des immensen Handlungsbedarfs eine Neuausrichtung bestehender Förderpolitiken und Naturschutzfinanzierung. Der NABU fordert einen Nationalen Ökosystemfonds zur Förderung von Projekten von gesamtstaatlicher Bedeutung zur Wiederherstellung von Artenvielfalt und Ökosystemleistungen in Deutschland. Dieser soll bestehende Bundesprogramme im Bereich der Biologischen Vielfalt bündeln und einen neuen Schwerpunkt auf die großflächige Renaturierung von Ökosystemen für Artenvielfalt und Klimaschutz legen.
Landwirte sollten künftig für ökologische Anstrengungen honoriert werden. Die Chancen der EU-Agrarreformen für die Jahre ab 2023 dürfen nicht ungenutzt bleiben: Die Mittel der bisherigen Flächenprämie sollten künftig in Programme für die angepasste Bewirtschaftung von Schutzgebieten, die Reduktion von Pestiziden, die Förderung des Öko-Landbaus, die Anlage von Gewässerrandstreifen und konkrete Artenschutzmaßnahmen umgewandelt werden.
Auch für Wälder in Privatbesitz sollte ein langfristig angelegtes Finanzierungsmodell zur Honorierung von Naturschutzleistungen Anreize zur Förderung natürlicher Prozesse sowie der Erhöhung von Altbaumanteilen und Totholz etabliert werden.
Naturschutz zum Wahlthema machen
Im nächsten Jahrzehnt werden wir alle Chancen nutzen, um unsere Landschaftökosysteme aus ihren Überlastungen zu führen, ihre Anpassungsfähigkeit an den Klimawandel zu erhöhen und sie als Lebensraum für die Artenvielfalt zu erhalten. Den Jahrzehnten fortdauernder Verluste können wir Jahrzehnte der Renaturierung, wieder reichhaltigerer Landschaften und erstarkender Populationen von fast verschwundenen Arten folgen lassen.
Jörg-Andreas Krüger; aus „Naturschutz heute“, Ausgabe 1/2021
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