Am Unteren Niederrhein ist ein wichtiges Brutgebiet für den stark gefährdeten Kiebitz – doch auch hier lauern viele Gefahren. Bitte helfen Sie dabei, die Kinderstuben des kleinen Vogels zu schützen!
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Umfassender Zustandsbericht erstmalig erschienen
Über die Hälfte der Lebensraumtypen Deutschlands ist in einem ungünstigen Zustand. Die Bestände vieler Arten sind rückläufig. Ein Drittel der untersuchten Arten ist in ihren Beständen gefährdet. Gleichzeitig bringen biologisch vielfältige Ökosysteme essenzielle Leistungen für uns Menschen. Unser Wohlergehen und Wirtschaften hängt von der Leistungsfähigkeit und Resilienz der Ökosysteme ab. Positive Entwicklungen zeigen, dass sich biologische Vielfalt erholen kann, wenn negative Treiber reduziert und die Qualität von Lebensräumen verbessert werden.
Das – und noch viel mehr – liegt nun erstmals in einem umfassenden, auf wissenschaftlichen Quellen basierten Bericht vor, dem Faktencheck Artenvielfalt.
Faktencheck Artenvielfalt: Zentrale Erkenntnissen und Trends
Dafür haben über 150 Autor*innen aus verschiedensten Disziplinen den aktuellen Wissensstand zur biologischen Vielfalt in Deutschland zusammengefasst: den Zustand, die Trends, die Ursachen und die vielversprechendsten Handlungsoptionen. Dies erfolgt durch die genaue Betrachtung von sechs Lebensräumen (Agrar- und Offenland, Wälder, Gewässer und Auen, urbane Räume und Boden). Die wichtigsten Erkenntnisse fassen wir an dieser Stelle zusammen. Für detaillierte Informationen empfehlen wir einen Blick in die Publikation selbst.
1. Über die Hälfte der Lebensraumtypen Deutschlands ist in einem ungünstigen Zustand.
Von den 93 in Deutschland vorkommenden Lebensraumtypen sind 60 Prozent in einem schlechten Erhaltungszustand und weisen rückläufige Entwicklungstendenzen auf. Insbesondere im Grünland verschwinden ehemals artenreiche Äcker, Moore, Moorwälder, Sümpfe und Quellen. Mehr als die Hälfte der Meeres- und Küstenlebensraumtypen der Nord- und Ostsee sind langfristig gefährdet.
2. Die Bestände vieler Arten sind rückläufig. Ein Drittel der untersuchten Arten ist in ihren Beständen gefährdet.
Von den etwa 72.000 in Deutschland einheimischen Tier-, Pflanzen- und Pilzarten wurden bislang etwa 40 Prozent auf die Gefährdung ihrer Populationen hin untersucht und in Roten Listen erfasst. Fast ein Drittel aller Arten in den Roten Listen sind bestandsgefährdet – die Artenvielfalt ist bedroht. Stark gefährdet sind viele Reptilien- und Amphibienarten sowie zahlreiche Insektenarten. Die Bodenbiodiversität ist bisher in Roten Listen zu weniger als fünf Prozent repräsentiert, weshalb Aussagen zur Gefährdung der biologischen Vielfalt des Bodens kaum möglich sind. Einzelne Zunahmen der Populationsgrößen zeigen sich innerhalb der Artengruppen der Säugetiere, Vögel, Tagfalter und Libellen, hingegen nicht für Arten, die auf seltene oder gefährdete Habitate angewiesen sind.
3. Der Zustand der biologischen Vielfalt spielt eine erhebliche Rolle für den Menschen.
Biologisch vielfältige Lebensräume erbringen essenzielle Leistungen für uns Menschen. Dazu gehören neben der Versorgung mit Nahrungsmitteln und Rohstoffen vor allem Regulationsfunktionen, wie die Blütenbestäubung, die Aufrechterhaltung von Nährstoffkreisläufen, der Klimaschutz, der Rückhalt von Wasser in der Landschaft und der Küsten- und Erosionsschutz.
4. Ökosystemleistungen steigen mit größerer biologischer Vielfalt.
Experimente und gezielte Beobachtungen im Freiland belegen für Deutschland und Mitteleuropa, dass artenreiche Ökosysteme leistungsfähiger sind und stabiler funktionieren als artenarme Systeme. Das liegt unter anderem daran, dass sich verschiedene Arten bei vielen Leistungen, wie Nährstoffaufnahme, Wachstum oder Zersetzung ergänzen, direkt unterstützen und bei Stress oder nach Störungen gegenseitig vertreten können. In artenreichen Lebensgemeinschaften sind einzelne Arten häufig gesünder und leistungsfähiger, weil ihre Krankheitserreger, Parasiten und Fressfeinde hier kleinere Populationen aufbauen.
5. Biologische Vielfalt trägt zur Regulierung des Klimas bei.
Artenreiche Wiesen halten im Vergleich zu artenarmen Wiesen besonders viel des Treibhausgases CO₂ als organische Substanz im Boden fest. Artenreiche Wälder tun dies vor allem in den lebenden Bäumen und im Totholz – stärker als artenarme. Auch feuchte Moorböden binden Kohlenstoff, und unterstützen so den Klimaschutz. Die biologische Vielfalt der Bodenorganismen steigert nicht nur die Mineralisierung von Nährstoffen im Boden, sondern fast immer auch dessen langfristige Kohlenstoffspeicherung. Darüber hinaus können artenreiche Wiesen und Wälder die Temperaturschwankungen am und im Boden besser abpuffern als artenarme. Artenreiche Lebensräume haben eine höhere Resistenz und Resilienz gegenüber Klimaextremen. Es zeigt sich: Klimaschutz und Naturschutz sind zwei Seiten derselben Medaille. Andere Regulationsleistungen, die nachweislich durch biologische Vielfalt gefördert werden können, sind der Erosionsschutz, die Wasserreinigung in Gewässern und Auen, die Blütenbestäubung und die Aufrechterhaltung der Nährstoffkreisläufe.
6. Biologische Vielfalt stärkt die mentale Gesundheit.
Dort, wo Natur noch vielfältig ist, steigert sie das Wohlbefinden, dient als künstlerische oder spirituelle Quelle und die charakteristischen Landschaften stärken das Heimatgefühl vieler Menschen. Dies bezeichnet man auch als kulturelle Ökosystemleistungen. Vor allem in Städten verbessert die Lebensraum- und Artenvielfalt nachweislich das Wohlbefinden von Menschen.
Die Autor*innen weisen darauf hin, dass ein standardisiertes Verfahren für die Erfassung der biologischen Vielfalt in Deutschland bislang fehlt. Es gibt viele, unabhängig voneinander arbeitende Programme, die jedoch größtenteils nicht aufeinander abgestimmt sind. Sie empfehlen daher ein integriertes, methodisch vereinheitlichtes und dauerhaft etabliertes Biodiversitätsmonitoring.
Der Faktencheck Artenvielfalt ist ein Schritt, diese Lücke zu schließen. Die nun vorliegenden Erkenntnisse zeigen deutlich den dringenden Handlungsbedarf.
Alle Parteien müssen jetzt handeln
Ganz bewusst richtet sich der Faktencheck deshalb auch an politische Entscheider*innen. Denn ehrgeizige Vereinbarungen zum Schutz unserer Lebensgrundlagen gibt es bereits, darunter das Weltnaturabkommen, der europäische Green Deal und die deutsche Biodiversitätsstrategie. Dieser Bericht liefert nun die notwendige wissenschaftliche Datengrundlage, um Maßnahmen gegen den weiteren Verlust der biologischen Vielfalt gesetzlich zu verankern und aktiv voranzutreiben.
Laura Breitkreuz, NABU-Referentin für Biodiversität, hat über drei Jahre am Projekt mitgearbeitet. Auch sie betont:
Wir haben nun eine unerschütterliche wissenschaftliche Grundlage, die wir alle als Weckruf verstehen sollten.
Laura Breitkreuz, NABU-Referentin für Biodiversität
Die alarmierenden Befunde zum Biodiversitätsverlust und die anhaltend negativen Trends mindern die Ökosystemleistungen, auf die wir uns in unserem täglichen Leben und für unser Wirtschaften verlassen. Der Faktencheck Artenvielfalt zeigt aber auch, welche Ansätze gegen das Erodieren unserer Lebensgrundlagen das größte Potenzial haben.
Folgende konkrete Hinweise liefert die Wissenschaft, die alle Parteien, die aktuell an Wahlprogrammen für die kommende Bundestagswahl arbeiten, kennen sollten:
- rechtliche und förderpolitische Instrumente der Naturschutzpolitik, wie zum Beispiel das Bundesnaturschutzgesetz, verfolgen ehrgeizige Ziele. Sie müssen jedoch in ihrer Umsetzung und im Vollzug geschärft werden. Darüber hinaus sollten finanzieller Anreize eher erfolgs- als maßnahmenbasiert vergeben werden.
- Bewirtschaftung von Flächen findet sowohl innerhalb als auch außerhalb von Schutzgebieten statt. Es sollten nachhaltige Landnutzungssysteme gefördert werden, die Schutz und Nutzung von biologischer Vielfalt miteinander vereinen. Die Extensivierung der Land-, Wasser- und Meeresnutzung, die Erhöhung der strukturellen Vielfalt und die Reduktion der Nährstoffeinträge in die Umwelt werden als die Maßnahmen mit dem größten Wirkpotenzial identifiziert.
- Impulsmaßnahmen, wie etwa die Renaturierung von Flüssen, wirken positiv auf die Biodiversität. Sie sind vor allem dann erfolgreich, wenn sie mit einer Evaluationsphase und langfristigem Management geplant werden.
- Die Effektivität von Förderprogrammen sollte nach wissenschaftlichen Standards evaluiert werden. Die Erfolgskontrolle sollte dabei sowohl ökologische als auch sozio-ökonomische und längerfristige Auswirkungen berücksichtigen. Finanzielle Entlohnung sollte sich am Ergebnis der Erfolgskontrolle orientieren.
- Unsere Institutionen müssen sich wandeln: weg vom Ressort-Denken hin zu integriertem, am Gemeinwohl orientiertem, sozial gerechtem Handeln.
- In der Gesellschaft braucht es nicht nur mehr Wissen über die biologische Vielfalt, sondern auch einen Diskurs zu Beweggründen für Biodiversitätsschutz.Dies kann mit Angeboten für Umweltbildung, Naturerleben sowie zur Mitbestimmung bei der Gestaltung von Landnutzungskonzepten und Planungsprozessen unterstützt werden.
- Widerstände gegen Biodiversitätsmaßnahmen können nicht nur mit finanziellen Anreizen aufgelöst werden. Auch Angebote zur Mitbestimmung, die Betroffene zu aktiv Beteiligten machen, spielen eine wichtige Rolle. Dies kann durch Öffentlichkeitsarbeit und Bildungsangebote unterstützt werden.
- Kennziffern der biologischen Vielfalt und ihrer Ökosystemleistungen müssen Eingang in die Gesamtbilanzen von Volkswirtschaften und Unternehmen finden.
Die zentralen Erkenntnisse haben die Autor*innen des Berichts in einer Kurzversion des Faktenchecks zusammengefasst.
Die Datenbasis
Für das umfassende Nachschlagewerk wurden über drei Jahre über 6.000 Publikationen ausgewertet. Neu ist, dass ein Datensatz von über 15.000 Zeitreihen der biologischen Vielfalt zusammengestellt und ausgewertet wurde. Dies ist ein erster Ansatz, die bisherige Datenlücken in der Langzeitbeobachtung bestimmter Artengruppen, zu schließen. Sie zeigt: Während es eine gewisse Variabilität gibt, nehmen die Bestände insbesondere bei Vögeln der Agrarlandschaft und Wirbellosen – zum Beispiel Wildbienen – deutlich mehr ab, als dass es positive Trends zu verzeichnen gibt.
Jede der im Faktencheck vermittelten Informationen ist mit Quellen belegt und somit nachvollziehbahr.
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