In diesen Zeiten schöpfen wir besonders viel Kraft in der Natur. Werden Sie NABU-Mitglied und helfen Sie mit, damit wir die Natur auch in Zukunft genießen können.
Jetzt NABU-Mitglied werden!Einfach losgehen
Ein Porträt des Spaziergangsforschers Bertram Weisshaar
Einmal hat Bertram Weisshaar ein verwildertes, mit einem Bauzaun gesichertes Abrissgrundstück im Leipziger Osten okkupiert. Das Tor zu der von Gründerzeithäusern flankierten Baulücke versperrte er mit einem Zahlenschloss. Wer hinein wolle, so informierte ein Schild die Passanten, müsse den Zahlencode telefonisch erfragen. Weisshaar stattete die hinter dem Bauzaun verborgene, baumbestandene und efeuüberwucherte Brache mit Zierpflanzen, Gartenstühlen und einem Tisch aus. „Plötzlich war das Grundstück mehr als nur eine Brache“, sagt der Aktionskünstler. „Jetzt war es auch ein heimlicher Garten.“
Doch Bertram Weisshaar ist nicht nur Künstler, sondern auch Wissenschaftler – Spaziergangsforscher, um genau zu sein. Die Spaziergangsforschung ist ein noch junger Wissenschaftszweig, der in den 80er Jahren an der Gesamthochschule Kassel entwickelt wurde und sich mit der Erfassung und gedanklichen Einordnung von Umwelt beschäftigt. Ziel ist es, bewusst wahrzunehmen; Umwelt also nicht nur zu sehen, sondern auch zu erkennen. Ein Anspruch, der das Spazierengehen in den Rang eines Forschungsinstrumentes erhebt, denn „Raum ist nur durch die eigene körperliche Bewegung durch denselben erfahrbar“.
Gehen als elementares Bedürfnis
„Ein Spaziergänger ist distanziert und neugierig zugleich“, erläutert Weisshaar. „Er hat kein persönliches Interesse an der Umgebung, durch die er spaziert. Diese neutrale Sicht auf die Umwelt öffnet den Blick für ungewöhnliche Perspektiven und neue Erkenntnisse.“ Man müsse einfach erstmal losgehen, lautet ein Leitgedanke des 46-Jährigen. Zum Beispiel von Leipzig nach Köln: Für die 500 Kilometer lange Tour durch deutsche Kleingärten war er 29 Tage unterwegs – zu Fuß, versteht sich.
Das Gehen ist dem drahtigen Mann mit den dunklen Locken elementares Bedürfnis. Seine Gangart verrät es: Bertram Weisshaar geht gleichmäßigen Schrittes mit leicht nach auswärts gerichteten Füßen, den Blick in sich gekehrt. Weisshaar ist unterwegs zum Leipziger Hauptbahnhof. Auf dem achtspurigen Innenstadtring tobt der Berufsverkehr. Weisshaar deutet auf einen achtgeschossigen Büroklotz. „Da standen ursprünglich drei Hochhäuser“, sagt der gebürtige Baden-Württemberger, der seit 2002 in Leipzig lebt. „Zwei wurden abgerissen.“
Stadtbild der Lücke
Die Baulücke im Leipziger Zentrum steht symptomatisch für den Schrumpfungsprozess, den die Stadt seit der Wende durchgemacht hat: Die Einwohnerzahl brach von 530.000 auf knapp 440.000 Mitte der 90er Jahre ein. Zwar zählt Leipzig heute wieder über 500.000 Einwohner, doch die Folgen der Schrumpfung sind im Stadtbild allgegenwärtig. Je weiter man gen Osten vordringt, desto häufiger sieht man Häuser mit bröckelndem Putz, zugemauerten Fernstern und verbuschten Dachrinnen. Leipzig verfügt über den größten Bestand an Gründerzeithäusern in Deutschland, herrschaftliche Mietshäuser mit Erkern, Türmchen und prunkvollen Portalen. Doch in der Stadt stehen über 40.000 Wohnungen leer. Für den Erhalt oder gar die Sanierung der Prachtbauten fehlt das Geld – ganze Viertel sind nun dem Verfall preisgegeben.
Die Gründerzeitquartiere im Osten der Stadt sind durchsetzt mit Abrissgrundstücken; in manchen Straßenzügen folgt auf jedes Haus eine eingezäunte Brache. Überall entstehen neue, verwildernde Grünflächen.
Für einen Spaziergangsforscher, der immer auf der Suche ist nach unbekannten Aussichten, vergessenen Orten und neuen Landschaften, ist der Leipziger Osten deshalb ein ideales Forschungsgebiet: „Was hier entsteht, ist neu“, sagt Bertram Weisshaar. „Normalerweise erwartet man Landschaft erst jenseits der Stadtgrenze. Doch in Leipzig wächst die Landschaft in die Stadt hinein.“
Landschaft entsteht im Kopf
Es entstehe eine neue Stadtlandschaft, die jedoch nicht wahrgenommen werde, weil sie den üblichen Vorstellungen widerspreche. Weisshaar bietet geführte Spaziergänge an, bei denen er seinem Publikum neue Landschaften zeigt – darunter nicht nur die Leipziger Abrissviertel, sondern auch Tagebau-Landschaften oder einen stillgelegten Autobahnzubringer. Auf diese Weise versucht er, sein Publikum für den Reiz des Ungewohnten zu sensibilisieren.
Auch Kunst-Inszenierungen wie der heimliche Garten hinterm Bauzaun gehören zum Konzept, mit dem Weisshaar die eingefahrene Wahrnehmung von Landschaft erweitern will. In der Person des studierten Landschaftsplaners verschmelzen künstlerische Existenz und wissenschaftliches Selbstverständnis zu neuer Totalität: „Ich springe“, versucht er seine Zwischenexistenz in Worte zu kleiden. „Mal bin ich in der Kunst zuhause, mal in der Wissenschaft.“
Zukunft, die nie gebaut wurde
Bertram Weisshaar hat den Hauptbahnhof inzwischen fast erreicht. Kurz vor dem Bahnhof biegt er ab auf einen ungepflegten Pflasterweg. Er schreitet über die Laderampe des verlassenen Güterbahnhofs, quert eine mit Gräsern und Buschwerk zugewucherte Brachfläche, passiert die Überreste ein Backsteinmauer und steht plötzlich am Hochufer eines Flusses: die Parthe. Ein schmiedeeiserner Gitterzaun entlang des Flusslaufs schützt vor dem Absturz, eine gepflasterte Straße führt zwischen zwei verfallenen Schuppen ins Nirgendwo. „Der Bahnhof ist nur einen Steinwurf entfernt“, sagt Weisshaar. „Doch dieser Ort ist verlassen und völlig unbekannt.“
Dort, wo Weisshaar am liebsten spazieren geht, auf dem brachliegenden Gelände im äußersten Osten der Stadt, waren einmal mehrere Straßen geplant. Doch heute ist dort Wald und Wiese. „Das Gebiet hatte eine Zukunft, die nie gebaut wurde“, sagt er. „Für mich ein sehr reizvoller Zwischenzustand.“ So wie es Bertram Weisshaar eben am liebsten hat.
Text: Hartmut Netz, Fotos: Karen Silvester