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Im Gespräch mit NABU-Präsident Jörg-Andreas Krüger
NABU: Das erste Jahr deiner Präsidentschaft ist bald um. Wie war es für dich?
Jörg-Andreas Krüger: Sehr spannend! Es sind gerade unglaublich viele wichtige Themen im Natur- und Umweltschutz in Bewegung: Die großen Klimastreiks mit Fridays for Future, die Landwirtschaftsproteste und die Reform der europäischen Agrarpolitik, um nur ein paar Punkte zu nennen. Dementsprechend groß ist das Interesse von außen, sich mit dem NABU zu treffen und mit dem neuen Präsidenten ins Gespräch zu kommen.
Das Jahr war für mich persönlich natürlich auch deshalb spannend, weil es die Rückkehr zum NABU gebracht hat. Zu dem Verband, den ich sehr gut kenne. Und auch eine Rückkehr zu vielen Themen, die ich vor einigen Jahren schon sehr intensiv bearbeitet habe und bei denen ich mich ganz schnell wieder auf den aktuellen Stand bringen musste. Durch die Corona-Pandemie haben sich nun leider viele Kennenlerntermine und Gespräche nach hinten verschoben – auch bei NABU-Gruppen und -Zentren vor Ort. Das hole ich jetzt nach.
Wie hat sich dein Arbeitsleben durch das neue Amt geändert? Hat dich dabei etwas besonders überrascht?
Mir war natürlich klar, dass ich als Präsident viel weniger operativ tätig sein würde, als zuvor in der Geschäftsführung beim WWF oder als Fachbereichsleiter Naturschutz und Umweltpolitik beim NABU. Der Anteil an Repräsentationsaufgaben, an Panel-Diskussionen und öffentlichen Formaten ist größer, als ich das erwartet habe. Mir war bewusst, dass da vieles auf mich zukommen würde. Aber wenn man dann drinsteckt, ist es doch noch einmal anders.
Positiv überrascht hat mich, wie oft ich als Repräsentant des Gesamtverbandes angesprochen werde, weil die Leute den NABU vor Ort wahrgenommen haben. So höre ich von Dritten immer wieder, wo der NABU überall aktiv ist. Alle kennen Beispiele aus einer NABU-Gruppe aus der Gegend, in der sie leben oder aufgewachsen sind. Das macht wahnsinnig viel Spaß.
Welche größten Herausforderungen siehst du für den Natur- und Umweltschutz in den kommenden Jahren?
Die Herausforderungen sind in den letzten Jahren eher größer geworden als kleiner: der Stopp des Artensterbens und der vielen Lebensraumverluste, die Bekämpfung des Klimawandels. Nicht nur in Deutschland, sondern auch weltweit.
Da haben wir als Gesellschaft viele Jahre lang zu wenig gemacht. Jetzt sehen wir die Konsequenzen. Die Probleme sind so groß geworden, dass der Problemdruck voll bei uns einschlägt. Unsere Wälder brechen zumTeil unter den Klimawandelfolgen zusammen. In den Agrarlandschaften haben wir hunderttausende von Brutpaaren an Feldvögeln verloren. Die Insekten sind weg. Als wir das in den 1980er und 1990er Jahren thematisiert haben, konnten wir anhand von Studien sagen: Das wird so kommen, wenn wir nichts tun. Jetzt ist es eingetreten. Das heißt: Es ist jetzt sichtbar, spürbar, fühlbar.
Darauf mit Schnelligkeit zur reagieren, das ist die große Herausforderung. Jetzt, wo der Problemdruck sichtbar wird, ist die Gesellschaft hoffentlich offener für die nötigen Veränderungen. Wir müssen jetzt wirklich ernst machen und die nächsten zehn Jahre nutzen: für die Heilung der Wunden in der Natur, für den Wiederaufbau von Lebensräumen und Artenpopulationen. Wenn wir dieses Zeitfenster verstreichen lassen, wird es irgendwann kein Zurück mehr geben.
Wie konfrontativ bzw. kooperativ soll der NABU unter dir als Präsident sein, wenn es darum geht, den Spagat zwischen Realpolitik und Maximalforderungen zu meistern?
Wir im NABU fordern nicht nur Lösungen, wir zeigen auch, wie man sie umsetzen kann. Dafür müssen wir in einem ersten Schritt unsere Ziele transparent benennen. Deswegen bin ich sehr froh, dass wir dieses Jahr den NABU-Masterplan in den Regionalworkshops mit Vertreter*innen des gesamten Verbandes voranbringen, in dem wir unsere Zielbilder aktualisiert zusammenfassen und auch den Umgang mit Zielkonflikten thematisieren.
Die große Stärke des NABU liegt darin: Wir sind konstruktiv und dialogfähig, aber auch streit- und diskursfähig – ohne zu überzeichnen. Das ist mir ganz wichtig. Von der Tonalität her wollen wir zu guten Lösungen beitragen. Das heißt, wir können sehr laut und sehr energisch werden, wenn die Lösungen in die falsche Richtung zu gehen drohen. Aber es geht uns nicht um Lautstärke an sich.
Deutschland hat 2020 im zweiten Halbjahr die Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union übernommen. Im Oktober 2021 wird der Deutsche Bundestag neu gewählt. Welche Weichen müssen in der Politik gestellt werden?
Die Weichen müssen in Richtung nachhaltige Entwicklung gestellt werden. Es gibt die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen, die Sustainable Development Goals, die bis 2030 erreicht werden sollen.
Daneben gibt es die Konvention zum Erhalt der Biologischen Vielfalt, es gibt die EU-Biodiversitätsstrategie, die Farm-to-fork-Strategie und vieles mehr. Die Zahl der Papiere, die bedruckt sind, ist groß, sie ist auch groß genug. Sie müssen endlich umgesetzt werden. Lasst uns endlich anfangen, damit wir keine Chancen vertun!
Es stehen große Themen an: Auf der europäischen Ebene hat die EU-Kommission mit dem„Green Deal“ einen Plan vorgelegt, wie sie Europa zum nachhaltigsten und wettbewerbsfähigsten Ort der Welt machen möchte. Sie möchte Lebensqualität erhöhen, sie möchte Klima schützen, sie möchte Arbeitsplätze erhalten und sie möchte auch das europäische Modell von demokratischen Zivilgesellschaften in diesem weltweiten Wettbewerb behalten. In einem Wettbewerb, in dem ja einige sagen, Demokratie sei out.
Wir brauchen die deutsche Regierung, um den „Green Deal“ auf europäischer Ebene gut zu unterstützen. Weil das der Weg ist, den wir gehen müssen. Und einen ähnlichen Weg brauchen wir auch für Deutschland. Er muss in den Wahlprogrammen der Parteien nächstes Jahr zu sehen sein. Und da sind wir wieder bei den Zielbildern: Welche Landwirtschaft wollen wir in Deutschland? Welche Automobilindustrie? Welche Mobilität? Welches Gesundheitssystem?
Als konkretes Beispiel: Was sollte im Bereich der Landwirtschaft geändert werden?
Das alte Zielbild, billige Lebensmittel en masse zu produzieren, ist quasi das Nachkriegszielbild aus den 1950er Jahren. Das hat uns mittlerweile auf einen ökologischen, aber auch sozialen Irrweg geführt. Wir haben unglaublich viele landwirtschaftliche Betriebe verloren, viele Höfe stehen unter einem wahnsinnigen ökonomischen Druck, finden keine Nachfolge mehr – das kann es ja alles nicht sein. Da müssen wir uns als Gesellschaft fragen: Welche Art von Landwirtschaft wollen wir?
Wir brauchen einen Paradigmenwechsel hin zur Produktion von guten Lebensmitteln in lebendigen Landschaften ohne Schädigung von Boden, Luft und Wasser, mit einem guten Einkommen für die Landwirt*innen. Dieser Paradigmenwechsel kann nicht nur über ein einzelnes Gesetz passieren. Er wird mit ganz vielen Diskussionen, mit jedem*r einzelnen von uns, mit jedem*r Verbraucher*in, mit jedem*r Lebensmitteleinzelhändler*in und mit der Lebensmittelwirtschaft einhergehen müssen.
Welche Themen sind für den NABU in den kommenden Jahren über Landwirtschaft und Mobilität hinaus besonders wichtig?
Zusätzlich natürlich auch immer die Energie- und Klimapolitik. Der Kohleausstieg und der Ausbau der Erneuerbaren Energien machen momentan 20 Prozent meiner Arbeit aus, weil wir in Deutschland den Klimaschutzzielen so stark hinterher hängen. Das ist die große politische Seite. Der NABU muss auch erklären: Wie funktionieren unsere Lösungsansätze zum Beispiel beim Ausbau Erneuerbarer Energien im Alltag?
Und auf der anderen Seite freue ich mich auch, wenn wir nach wie vor viele Menschen begeistern können: mit Naturerlebnissen, mit unseren Citizen-Science-Angeboten, mit unseren Mitmach-Aktionen –nächstes Jahr beispielsweise mit dem 50. Vogel des Jahres. All das ist mir auch sehr wichtig.
Das brauche ich für mich selber ja auch: Wenn ich nicht regelmäßig draußen in der Natur mit einem Fernglas um den Hals unterwegs bin, dann gehe ich kaputt. Nur Paperwork und nur Politik, das funktioniert zumindest für mich nicht.
Die Corona-Pandemie war das alles bestimmende Thema 2020. Wie können wir erreichen, dass Politik und Gesellschaft beim Thema Klima- und Naturschutz genauso mutig agieren wie in der Corona-Pandemie?
Das gesellschaftliche Zielbild in der Pandemie war sehr klar und sehr einfach: Man wollte Leben schützen und retten. Die negativen Folgen wären in wenigen Wochen spürbar gewesen. Beim Zielbild Klimaschutz oder Mobilitätswende kommen viele negative Folgen erst in zehn, zwanzig Jahren. Aber wir haben gesehen: Wenn Politik und Gesellschaft rechtzeitig und konzentriert handeln, dann erreicht man auch etwas.
Ich habe den Eindruck, dass in der Gesellschaft auch gerade durch Corona große Bereitschaft für Veränderung da ist. Das war in den letzten Jahren zum Teil ganz anders. Da hatte ich oft den Eindruck, jede Bewegung, jede kleine Veränderung geht nur mit Zwang, auf Knirsch oder nach einem schrecklichen Anlass. Da hat es für Veränderungen ein katastrophales Hochwasser gebraucht oder gar Fukushima.
Eine der möglichen Lehren aus der Corona-Pandemie könnte sein: Wirtschaftliches Wachstum um jeden Preis ist nicht notwendig.
Wir müssen vor allem qualitativ wachsen. Als Beispiel: Muss es denn sein, dass ein Pfund Gehacktes so billig ist? Dass dafür die Arbeit schlecht bezahlt ist, dass die Landwirt*innen wenig verdienen, dass die Tiere unter schlechten Bedingungen gehalten werden, dass wir Futtermittel aus Brasilien einschiffen, das unter ökologisch schlechten Bedingungen erzeugt worden ist? Muss das alles sein? Wir müssen in der Qualität wachsen. Dann darf das Pfund Gehacktes auch ein bisschen mehr kosten, wenn die Umweltkosten und die sozialen Kosten, die mit der Produktion verbunden sind, den Preis mit abbilden.
Es gibt viele Dinge, die wir momentan nicht richtig bepreist kriegen. Diese Internalisierung von externen Kosten ist ein Dauerthema. Das fängt mit dem CO2-Preis an. Wir können aber auch über eine Pestizid-Abgabe nachdenken oder über eine Abgabe bei der Bewirtschaftung von organischen Böden. Damit die Landwirt*innen, die den Boden so schonend bearbeiten, dass er eben kein CO2 freisetzt, einen Zuschuss bekommen, der die verringerten Erträge, die sie dadurch haben, ausgleicht.
Nachdenken könnten wir auch über eine Tierwohlabgabe, wie sie jetzt eine Regierungskommission gefordert hat. Oder eine Biodiversitätsabgabe, mit der wir Landwirt*innen ernsthaft dafür bezahlen, dass sie Natur und Landschaft erhalten und gestalten. Dieser Konzept- und Ideenwettbewerb ist jetzt überfällig. Dafür müssen Subventionen ausgegeben werden und nicht für den Erhalt alter Technologien und alter Produktionsweisen. Und die umweltschädlichen, die so genannten perversen Subventionen, müssen dringend weg. Da wird unglaublich viel Geld in die falschen Dinge gesteckt.
Nachhaltige Entwicklung braucht einen Rahmen, den die Politik vorgeben muss. Man kann nicht so tun, als ob sich das einfach im freien Spiel der Kräfte zufällig ergibt. Und dann brauchen wir klare gesellschaftlich diskutierte Zielbilder. Innerhalb dieses Rahmens und mit diesen Zielbildern haben wir noch immer wahnsinnig viel Spielraum für jede*n einzelne*n, für jedes Wirtschaftsunternehmen, für alle gesellschaftlichen Organisationen. Das ist etwas, was wir viel häufiger spielen müssen: Dass es nicht immer einen einzigen richtigen Weg gibt, sondern dass es mehrere richtige Wege geben kann.
Wie schätzt du das Konjunkturprogramm der Bundesregierung ein?
Das Konjunkturpaket hat viele gut gelungene Elemente, es ist besser, als ich es befürchtet habe. Aber es gibt auch ein paar Fragezeichen: Zum Beispiel sollen700 Millionen Euro für den Wald ausgegeben werden. Die Frage ist: Wofür genau? Da müssen wir in die Diskussion gehen bei der Ausgestaltung. Nachdem die Fichten durch den Klimawandel alle absterben, kann man nicht Monokulturen mit der nächsten Baumart anpflanzen und das dann auch noch öffentlich fördern.
Hinzu kommt: Natürlich wurden vorrangig Maßnahmen gewählt, die konjunkturell sehr schnell wirksam sind. Das ist nicht unproblematisch. Denn Maßnahmen, die den Erhalt von Natur und Landschaften, von Schutzgebieten, auch von Gewässerrenaturierung, von Hochwasserschutz durch Auenrenaturierung zum Ziel haben, brauchen fünf bis zehn Jahre zur Umsetzung. Darum sind sie jetzt nicht im Konjunkturprogramm enthalten. Wir brauchen sie aber für die Wiederherstellung unserer Ökosystemleistungsfähigkeiten, für den Schutz der Böden, der Grundwasserhaushalte.
Wir müssen diese ökologische Transformation auch jenseits der kurzfristigen, konjunkturell schnellen Programme politisch auf den Weg bringen. Dazu gibt es die ersten Gespräche, die wir mit der Politik, dem Finanzministerium und dem Umweltministerium führen. Da bleiben wir weiter dran.
Das Interview führte Belinda Bindig.
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