Am Unteren Niederrhein ist ein wichtiges Brutgebiet für den stark gefährdeten Kiebitz – doch auch hier lauern viele Gefahren. Bitte helfen Sie dabei, die Kinderstuben des kleinen Vogels zu schützen!
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Über die natürliche Regulation von Vogelpopulationen
In jedem Park singen heute die Ringeltauben - früher waren sie scheue und seltene Waldvögel. Soweit sie nicht mehr bejagt werden, nehmen auch Kormorane und Rabenvögel zu. Wilde Gänse landen im Norden und Osten Deutschlands scharenweise auf grüner Wiese und keimendem Wintergetreide.
Doch wer als Tier an Häufigkeit zunimmt, läuft rasch Gefahr, verteufelt zu werden. Man sagt ihm nach, es nehme „überhand“. Sogleich fühlen sich auch einige Mitmenschen berufen, diesem Geschehen Einhalt zu bieten. Leider fällt uns kaum ein anderes Mittel ein, als die „überschüssigen“ Tiere abzuschießen.
Aktuelle Beobachtungen und Untersuchungsergebnisse zeigen aber einmal mehr, dass auch heute und selbst in unserer Kulturlandschaft natürliche Regulationsmechanismen wirken. Allerdings: Man darf keine Wunder von ihnen erwarten. Sie arbeiten nicht für die Zwecke des menschlichen Wohlbefindens. Sie arbeiten auch langsamer und anders, als wir uns manchmal wünschen möchten.
Seeadler und Kormorane
Beispiel Kormoran: Die schwarz gefiederten Fischspezialisten sind am größten niedersächsischen See, dem Steinhuder Meer, seit Anfang der neunziger Jahre regelmäßige Nahrungsgäste. Eine erste Brut fand 1997 statt und ein Jahr später gründeten 14 Kormoranpaare eine kleine Kolonie. Während der Brutzeit drangen Unbekannte dort ein und zerstörten sie, indem sie – illegal – sämtliche Horstbäume absägten. Im Jahr 2000 war dann erneut eine kleine Brutkolonie entstanden.
Hier gelangen den vom Land Niedersachsen mit der Gebietsbetreuung beauftragten Wissenschaftlern der Ökologischen Schutzstation Steinhuder Meer unerwartete Beobachtungen: Während noch Ende Mai 25 Nester besetzt und weitere 16 im Bau waren, wurde Anfang Juni morgens ein Seeadler beobachtet, der die Kolonie gezielt anflog, sich auf ein Kormorannest setzte, einen der Jungvögel tötete und fraß. Eine halbe Stunde später trug er ein zweites Kormoranjunges in Richtung seines Horstes davon. Nur zwei Tage später waren alle Nester verlassen. Übrig blieben nur zwei eben ausgeflogene Jungkormorane.
Ein Jahr später: Mitte Mai bestand die Kolonie aus 24 besetzten Nestern. Mehrfach wird danach ein jugendlicher Seeadler über der Kolonie beobachtet. Die meisten Kormorane verließen schließlich die Nester und Ende Mai war die Kolonie wiederum verwaist. Nicht ein einziger Jungvogel flog aus. Mehr noch: Der in einem ruhigen Uferbereich gelegene traditionelle Ruheplatz der Kormorane, an dem zeitweise mehrere Hundert der Vögel ruhten, wurde verlagert – in die Nähe eines stark von Menschen besuchten und von den scheuen Seeadlern weitgehend gemiedenen Uferbereiches.
Habichte und Rabenvögel
Nicht nur Kormorane reagieren auf die Anwesenheit von Beutegreifern, die ihnen gefährlich werden können. Wie schon lange bekannt ist und der Braunschweiger Rabenvogelspezialist Jochen Wittenberg neuerlich festgestellt, ziehen sich ganze Brutpopulationen der Rabenkrähe aus Waldbeständen zurück, wenn der Habicht dort Einzug hält. Nicht dass der Habicht die Krähen erbeutet, das passiert eher selten. Doch meiden die vorsichtigen Krähen einfach die weitere Umgebung des Habichthorstes, weil die Jungvögel in den Nestern dem Angreifer ausgeliefert wären. Die Ansiedlung des Vogeljägers Habicht hatte sogar noch weitere Folgen, denn schließlich verminderte sich der Bestand der Waldohreulen, weil sie die für ihre eigene Brut benötigten Krähennester nicht mehr vorfanden. Solche komplizierten Zusammenhänge sind in der Ökologie die Regel.
Keine Wunder erwarten
Wir dürfen von den Beutegreifern keine Wunderdinge erwarten. Sie werden nicht eine Population von Beutetieren im Nu herunter regulieren oder gar ausrotten, doch die Einflüsse sind nicht zu leugnen:
Seit 1970 ganzjährig unter Schutz gestellt, haben mittlerweile die meist scheuen und heimlichen Habichte auch in den Parks deutscher Großstädte Einzug gehalten. In Köln etwa gibt es auf einer Fläche von 200 Quadratkilometern heute mehr als 20 Habichtpaare. Auch Elstern siedeln sich in jüngerer Zeit mehr und mehr in Ortschaften an – weil sie hier reichlich Nahrung finden und nicht bejagt werden dürfen, auch weil es wenige Rabenkrähen gibt. Die Krähe ist bekanntermaßen der Todfeind der Elster.
Inzwischen brüten in Köln etwa 20 Elstern pro Quadratkilometer. Habichte schlagen zwar vorwiegend Tauben, doch bedienen sie sich auch bei den Elstern. Die Greife machen es sich bequem: Sie erbeuten dreimal so viele Jungvögel wie Altvögel. Die Siedlungsdichte der Elster scheint von diesen Eingriffen zwar nicht unmittelbar betroffen. Elstern können mit dem Habicht leben. Doch wahrscheinlich hemmt der Eingriff des Habichts die Entwicklung der Elsternpopulation oder begrenzt sie nach oben.
Ringeltauben und Ringelgänse
Zwei weitere Beispiele: Die Zahl der Ringeltauben nimmt in städtischen Parks, in Gärten und sogar in den Stadtzentren zu, wenn nur ein wenig Grün vorhanden ist. Sie brüten zu fast allen Jahreszeiten. Das gleiche Bild gab es in Polen bereits Anfang der 70er Jahre. Dann war dort aber plötzlich Schluss mit dem Taubenparadies. Krähen und andere hatten die Eier und Jungen der Tauben als Nahrungsquelle entdeckt, zogen in die Städte ein, und seither ist die Taubenpopulation in Polen auf niedrigem Niveau stabil.
Seit vor dreißig Jahren die Jagd auf die Ringelgans in Dänemark eingestellt wurde, nahm die Zahl dieser arktischen Wintergäste an unseren Küsten zu. Das ging zuerst langsam, dann rascher. Die Bestände überstiegen 200.000 Tiere und erreichten um 1992 mehr als 300.000. Schon gingen die Landwirte an den Küsten auf die Barrikaden, die ihr Einkommen von den Grasfressern bedroht sahen. Und schon standen überall die Jäger Gewehr bei Fuß, um die Vögel zu „regulieren“. Doch dann war es plötzlich aus mit dem Wachstum. So schnell sie sich vermehrt hatten, so rasch nahm die Zahl wieder ab. Jetzt gibt es weniger als 200.000 Ringelgänse. Möglicherweise war es eine Reihe von schlechten arktischen Sommern, die zu dem Rückgang führte, oder der verstärkte Feinddruck in der arktischen Küstentundra. Jedenfalls haben sich die Zahlen ohne unser Zutun vermindert.
Komplizierte Zusammenhänge
Einen einfachen Zusammenhang zwischen Räuber und Beute gibt es nicht. Die Habichte etwa fressen nicht nur Elstern, sondern ernähren sich von vielen verschiedenen Beutetieren. Oft ist es so, dass eher die Beutegreifer von den Beutetieren reguliert werden als umgekehrt. Große Beutegreifer können auch wieder den Feinddruck auf kleine Tiere vermindern, weil sie ihre unmittelbaren Feinde beeinflussen: Der Wolf reguliert den Fuchs und nimmt dadurch Feinddruck von den bodenbrütenden Vogelarten weg.
Außerdem reagieren die Populationen unterschiedlich auf Feinddruck. Manche erholen sich rasch von Eingriffen. Andere können Verluste nur langsam kompensieren.
Geduld und Toleranz üben
Dass Tiere von anderen Tieren oder von Pflanzen leben, ist durch die Natur vorgegeben. Auch wir Menschen ernähren uns – je nach unserer Einstellung – von Tieren, von tierlichen Produkten oder von Pflanzen und ihren Produkten. Eigentlich gibt es darüber nichts zu streiten.
Aber viele Menschen hassen die Elster, die der Amsel die Eier wegnimmt. Andere hassen den Kormoran, der Fische erbeutet, die sie gern selbst essen oder auch nur fangen würden. Vielleicht gibt es auch Menschen, die den Seeadler hassen, wenn er einen Kormoran erbeutet. Doch alle diese Gefühle führen in die Irre. Wir dürfen nicht nach Böse und Gut unterscheiden. Alle tun ihre Aufgabe. Die Natur kann mehr, als wir ihr manchmal zutrauen – wir müssen nur bereit sein, sie gewähren zu lassen. Dazu braucht es unsere Geduld und Toleranz.
von Hans-Heiner Bergmann & Thomas Brandt