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Munitions-Altlasten in Nord- und Ostsee
Zwischen 400.000 und 1,3 Millionen Tonnen konventioneller Munition werden als gefährliches Erbe zweier Weltkriege am Grund von Nord- und Ostsee vermutet. Dazu gehören Gewehrpatronen ebenso wie mit bis zu einer halben Tonne hochgiftigem Sprengstoff bestückte Seeminen und Torpedos. Oft sind die Metallhüllen dieser Sprengkörper bereits so stark korrodiert, dass Sprengstoffe herausbröckeln und die Meeresumwelt bedrohen.
Sie können sich möglicherweise über die Nahrungskette anreichern. Auch besteht die Gefahr, dass Krebs erregende Schießwolle – ein Gemisch aus Trinitrotoluol (TNT), Hexannitro-Diphenylamin und Aluminium – an die Strände gespült wird. Die Gefahr ist akut: Zuletzt wurde am 17. September wurde ein vier Meter langes Teilstück eines Torpedos im Ostseebad Timmendorfer Strand angespült – glücklicherweise ohne Sprengstoff.
Schweinswale in Gefahr
Bislang wurden gefährliche Altlasten im Meer fast immer durch sogenannte Vernichtungssprengungen vor Ort beseitigt. Im Herbst 2006 protestierten erstmals der NABU Schleswig-Holstein, die Gesellschaft zur Rettung der Delphine (GRD) und die Gesellschaft zum Schutz der Meeressäugetiere (GSM) gemeinsam gegen die Sprengung von Altmunition, die im Munitionsversenkungsgebiet Kolberger Heide am Ausgang der Kieler Förde, einem ausgewiesenen FFH- und Vogelschutzgebiet, einer Fahrwasserverlegung im Wege waren. Hier wurden nach Ende des zweiten Weltkrieges rund 8.000 Torpedo-Sprengköpfe und 10.000 Seeminen versenkt, von denen bislang nur 130 gefunden wurden.
Grund für den Protest: Hier lebende Schweinswale können durch die Schockwelle der Sprengungen getötet oder zumindest das Gehör schwer geschädigt werden. In einem Radius von vier Kilometern ist eine Sprengung für Schweinswale tödlich. Hörschäden treten noch in über 30 Kilometern Entfernung auf.
TNT-Reste trotz Sprengung
Außerdem werden bei den Vernichtungssprengungen die giftigen Sprengstoffe nicht vollständig beseitigt. Untersuchungen wiesen noch in hundert Metern Entfernung vom Detonationsort einer 14-Kilogramm-Ladung TNT im Wasser nach. Das Landesumweltministerium, eigentlich zuständig für den Schutz der Ostsee und der Schweinswale, wiegelt jedoch weiterhin ab: Sprengungen und Sprengstoffreste im Versenkungsgebiet seien unbedenklich.
Nachdem das Amt für Katastrophenschutz des Landes behauptete, es gäbe zu den Sprengungen keine Alternativen zur Sprengung lägen nicht vor, zeigte ein Fachsymposium von NABU, GRD und GSM, dass es sehr wohl Methoden gibt, die eine massive Schädigung der Meeresumwelt verhindern können. Mittlerweile existiert zu diesem heiklen Thema eine Arbeitsgruppe aus Umweltverbänden, Kampfmittelräumdienst und Landesinnenministerium. Das Innenministerium hat zudem eine vorläufige Sprengpause verhängt.
Alternativ-Methoden im Test
Die Alternativen werden derzeit auf ihre Einsatzfähigkeit im Meer geprüft. Erste Tests zum Zerschneiden von Munition unter Wasser sowie über die Dämpfungswirkung der Spreng-Schockwelle mit Hilfe eines Vorhangs aus Luftblasen lassen auf einen Erfolg hoffen.
Unterwasser-Robotik, Wasserschneidsysteme und Vereisungstechnik können mit mobilen Verbrennungsöfen auf Pontons oder einer Behandlung aufgelöster Sprengstoffe im UV Licht für die schleswig-holsteinische Wirtschaft zum Exportschlager werden, denn viele der Methoden wurden hier entwickelt und die Munitionsproblematik besteht weltweit.
Gifte in der Nahrungskette?
Nach Auffassung des NABU ist eine schadlose Beseitigung von Rüstungsaltlasten im Meer nur ohne Sprengung möglich. Ein erster Schritt zur Problemlösung muss die Auswertung historischer Archiv-Quellen zu Lage, Art und Menge der versenkten Munition sein. Danach ist eine gezielte Suche nach Altmunition notwendig. In der Folge muss ihr Zustand bewertet und dann mit der Bergung der gefährlichsten Munitionsreste begonnen werden. Besonders dringlich ist dies bei korrodierter Munition in der Nähe von Badestränden. Neben konventioneller Munition stellen chemische Kampfstoffe – also Giftgas – die Bergungstechnik vor besondere Herausforderungen.
Mit Blick auf die drohenden Gefahren für Mensch und Natur fordern Toxikologen der Universität Kiel zudem ein umfassendes Bio-Monitoring zum Anreicherungspotential von Sprengstoffen in der Nahrungskette und im Sediment. Sie verweisen dabei auf stark erhöhte Arsen-Konzentrationen in manchen Ostsee-Schollen, die möglicherweise auf Giftgasmunition zurückgehen.
Europaweites Problem
GSM, GRD und NABU haben in einem Brief das als Geldgeber der Munitionsbeseitigung fungierende Bundesverkehrsministerium aufgefordert, den neuen Wissensstand zu nutzen, um sich bei der Munitionsbeseitigung im Meer neu zu orientieren und neue Standards festzusetzen. Diese könnten europaweit Gültigkeit erlangen und Bewegung in die längst überfällige, aber weiterhin verschleppte Sanierung von Rüstungsaltlasten in unseren Meeren bringen.
Unterstützung kommt dabei vom Europäische Parlament, das in einer Entschließung die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten aufforderte, „umfassende Untersuchungen über die in den europäischen Meeren versenkten Munitionsaltlasten aus vorherigen Kriegen und die von ihnen ausgehenden Gefahren für Mensch und Umwelt in die Meerespolitik mit einzubeziehen und mögliche Sicherungs- und Bergungsmaßnahmen für sie zu prüfen.“
Sven Koschinski und Ingo Ludwichowski