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Jetzt NABU-Mitglied werden!Schillernde Begriffe, graue Wirklichkeit
Die Vogelwelt empfiehlt: Meiden Sie integriert produziertes Obst
30. April 2004 - In Streuobstbeständen kommen viermal mehr Brutvogelarten und fünfmal mehr Brutpaare vor als in Niederstammanlagen der so genannten "Integrierten Produktion". Dies ergaben mehrjährige Untersuchungen am Bodensee. Die nachgewiesene Biomasse an Insekten und Spinnentieren hatte sogar fast das achtfache Gewicht.
Dabei soll die Integrierte Produktion (IP) eigentlich für einen verträglicheren Umgang mit der Umwelt stehen. Die Obstbauern reagierten damit auf den schlechten Ruf des chemieintensiven konventionellen Anbaus. Wurden doch im Jahr 1983 im Durchschnitt 27, in Ausnahmefällen bis zu 57 chemische Wirkstoffe pro Jahr und Obstkultur ausgebracht - was einer sensibilisierten Öffentlichkeit nicht länger zu vermitteln war.
Gute Grundidee
Die IP-Kernidee ist gekennzeichnet durch das bewusste Ausnutzen natürlicher Bekämpfungsfaktoren sowie kulturtechnische Vorbeugemaßnahmen, sodass ein Chemieeinsatz nur als letzte Maßnahme in Frage kommt . "Schädlinge festzustellen und nicht zu bekämpfen, fällt nicht nur den Landwirten schwer, sondern auch ihren Beratern", beklagte jedoch der IP-Pionier Hans Steiner schon früh. "Nicht wer ein neues Präparat sucht, um diese Probleme zu lösen, wird auf die Dauer Erfolg haben, sondern jener, der sich mit den Ursachen der Probleme befasst und ihre Lösung dort sucht."
Innerhalb verdächtig kurzer Zeit wurde auf nahezu der gesamten Intensivobstfläche Deutschlands nach den angeblich strengen Richtlinien für dieses neue Qualitätslabel gewirtschaftet. Bereits 1988 öffneten sich große Obstbauregionen in Europa, unter ihnen das Alte Land bei Hamburg, für die Integrierte Produktion von Obst. Schon bald darauf wurde fast die gesamte Kernobst-Produktion im Hauptobstbauland Baden-Württemberg mit IP-Label vermarktet.
Weiterhin hoher Pestizideinsatz
Der Verdacht der bloßen propagandistischen "Umetikettierung" liegt nicht nur nahe, sondern ist durch ein internes Schreiben der größten Obsterzeuger-Organisation am Bodensee eindrucksvoll belegt. Darin findet sich der Hinweis, dass die bestehenden Minimalforderungen an die Erzeuger nur dazu dienen sollen, dem Verbraucher den Eindruck einer umweltschonenden Produktion und eines reduzierten Chemie-Einsatzes zu vermitteln. Strenge Maßstäbe an die Produktion seien nicht das Ziel. So verwundert es auch nicht, dass auch 1993/94 - und damit nach Einführung der IP - der jährliche Pflanzenschutzmittelaufwand für die Obstproduktion im Alten Land bei Hamburg mit fast 20 Kilogramm pro Hektar als die höchste in Deutschland ausgebrachte Pflanzenschutzintensität überhaupt identifiziert wurde. Zur selben Zeit wurden am Bodensee im Mittel immer noch 24 Pestizid-Spritzungen pro Apfel und Jahr ausgebracht.
Die Integrierte Produktion wird bis heute unverändert mit irreführenden Begriffen beworben, um die Vermarktung des so produzierten Obstes zu befördern. Der gestiegenen Verbraucher-Sensibilisierung für Umweltfragen entsprechend werden dabei undefinierte und rechtlich nicht geschützte Qualitätsbegriffe wie "umweltschonend", "nützlingsschonend" oder "im Einklang mit der Natur" verwendet. Und dies, obwohl keine einzige qualifizierte Untersuchung die angebliche Umweltverträglichkeit des Integrierten Obstbaus belegt oder im Vergleich zu anderen Obstproduktionsmethoden wie dem Ökologischen Obstbau oder dem Streuobstbau bestätigt.
Artenarme Niederstammanlagen
Bei den Untersuchungen am Bodensee wurde integriert bewirtschaftete und ökologisch bewirtschaftete Niederstamm-Obstanlagen sowie Streuobstbestände hinsichtlich ihrer Naturausstattung und Artenvielfalt verglichen. Im Vergleich zu Hochstamm-Obstbäumen sind Niederstamm-Obstanlagen sehr strukturarme und monotone Lebensräume. Die kleinen Bäumchen selbst bieten nur für wenige Vogelarten Brutplätze, Insekten und Spinnentiere in den Bäumen sind durch den intensiven Pflanzenschutz deutlich reduziert und auch am Boden unter und zwischen den Baumreihen bleibt in der Regel wenig Platz für Natur. Umso wichtiger sind Hecken, einzelne Hochstammbäume, Kräuterstreifen, Steinhaufen und Nisthilfen, die durchaus auch in solche Anlagen integriert werden können.
In der Realität aber gibt es erhebliche Unterschiede zwischen ökologisch und integriert bewirtschafteten Anlagen. Übers ganze Jahr gesehen wurden auf den ökologisch bewirtschafteten Flächen über doppelt so viele Vogel-Individuen festgestellt und 75 Prozent mehr Vogelarten nachgewiesen als auf den IP-Flächen. Ein wesentlicher Grund dafür ist die für Vögel bessere Nahrungssituation auf den Ökoflächen. Bei sämtlichen Erhebungen wild lebender Tier- und Pflanzenarten - unter anderem auch Heuschrecken und Ohrwürmer - wies der Streuobstbau die höchsten, die Öko-Niederstammanlagen mittlere und die IP-Niederstammanlagen die geringsten Artenzahlen auf. Vor diesem Hintergrund kann der IP-Niederstammobstbau weder als umweltschonend noch als nützlingsschonend bezeichnet werden. Unverändert stellt er die wohl pestizidintensivste Freilandkultur in Mitteleuropa dar.
Ökologisch und regional einkaufen
Steht also auch hier am Ende der Appell an das Verbraucherbewusstsein und Verbraucherhandeln. "Ökologisch" und "regional" sollten daher für naturbewusste Verbraucher die Entscheidungskriterien beim Apfelkauf sein. Auf keinen Fall aber sollte man sich von schillernden Begriffen wie "kontrolliert-integriert" oder "umweltschonend" blenden lassen. Für konkrete Naturschutzqualitäten stehen beim Obstkauf andere Begriffe. Nur wo "Streuobst" oder "Öko-Obst" drauf steht, ist auch wirklich Vogellebensraum beziehungsweise Chemiefreiheit drin. Verbraucher sollten es daher Spechten und Fliegenschnäppern als wichtigen Indikatoren aus der Vogelwelt gleich tun und integriert produziertes Obst meiden.
Stefan Rösler
Dieser Artikel basiert auf Stefan Röslers Doktorarbeit zur Natur- und Sozialverträglichkeit des Integrierten Obstbaus. Diese ist als 430 Seiten starkes Buch 2007 in der 2. Auflage erschienen. Dieses Standardwerk auch zur Geschichte und Ökologie des Streuobstbaus kann zum Preis von 26,00 Euro plus Versandkosten bezogen werden beim NABU-Streuobstmaterialversand.
Auf Schädlinge reagieren
Ob nun Streuobstwiesen mit hochstämmigen Obstbäumen oder intensiv bewirtschaftete Niederstamm-Obstanlagen: Jeder Obstbauer strebt nach großem Ertrag bei gleichzeitig möglichst gesundem Obst.
Entsprechend alt sind die Bemühungen, die Kulturpflanzen vor Schaden durch Krankheiten oder Schädlinge zu schützen. Die Verwendung natürlicher Insektizide ist aus Persien erstmals für die Zeit um das Jahr 400 vor Christus belegt. Die Wurzeln des chemischen Pflanzenschutzes datieren dagegen erst um das Jahr 1850. Die Ursprünge des so genannten "Integrierten Pflanzenschutzes" sind noch einmal 100 Jahre jünger.
Es war vor allem Hans Steiner, der an der Landesanstalt für Pflanzenschutz in Stuttgart seit 1953 neue Wege des Pflanzenschutzes im Obstbau beschritt. Damals führte der nach dem Ende des zweiten Weltkriegs im Obstbau eingeführte intensive chemische Pflanzenschutz zu Resistenzen von Schad-Insekten gegen die eingesetzten Pestizide. Auch traten Arten wie der Apfelschalenwickler und die Obstbaumspinnmilbe, die bis dahin unauffällig geblieben waren, plötzlich als wirtschaftliche bedeutsame "Schädlinge" in Erscheinung.
Der von Steiner und seinen Kollegen erarbeitete Lösungsansatz war der so genannte "Integrierte Pflanzenschutz". "Integriert" sollte bedeuten, dass "alle wirtschaftlich, ökologisch und toxikologisch vertretbaren Methoden Verwendung finden, wobei das bewusste Ausnutzen natürlicher Bekämpfungsverfahren sowie kulturtechnische Vorbeugemaßnahmen im Vordergrund steht". Der Einsatz chemischer Pestizide war also erst als der letzte Schritt eines abgestuften Maßnahmepaketes vorgesehen. Die Praxis sieht leider anders aus.