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Jetzt NABU-Mitglied werden!„Die Politik hinkt den Problemen hinterher“
Im Interview zieht NABU-Präsident Olaf Tschimpke Bilanz
Olaf Tschimpke war seit 1985 Geschäftsführer und später Vorsitzender des NABU Niedersachsen. Im Juni 2003 wurde er erstmals zum NABU-Präsidenten gewählt und danach drei Mal wiedergewählt – stand also 16 Jahre an der Spitze des NABU. Nun gibt Tschimpke das Amt in jüngere Hände.
Nach 16 Jahren Präsidentschaft, was überwiegt da: Stolz auf das Erreichte, Wehmut zum Abschied?
Stolz auf das gemeinsam Erreichte und Dankbarkeit, dass ich so lange mitgestalten durfte. Sicher, jetzt beim Aufräumen des Präsidentenbüros schaue ich mir so manches aus den letzten Jahren noch mal an. Aber für Wehmut besteht kein Anlass. Ich gehe ja nicht komplett von Bord und werde mich künftig in anderer Funktion vor allem um internationale Themen kümmern. Außerdem lässt das Tagesgeschäft nicht locker. Gerade hat das Kabinett sein Klimaschutzprogramm beschlossen, im Bundestag steht eine Novelle des Naturschutzgesetzes an, bei der es dem Wolf an den Kragen gehen soll, die Windenergiebranche versucht, den Artenschutz loszuwerden…
Dennoch der richtige Zeitpunkt für eine Amtsübergabe?
Als ich damals Präsident wurde, ging das holterdiepolter. Jochen Flasbarth war überraschend von Jürgen Trittin ins Bundesumweltministerium abgeworben worden und der NABU musste sich neu orientieren. Jetzt haben wir einen gut vorbereiteten Übergang. Es hat viele Vorgespräche gegeben, die Landesverbände sind einbezogen und Anfang November haben dann die NABU-Delegierten das Wort.
So funktioniert der NABU: Das Parlament
Einmal im Jahr, meist im Herbst, tagt das NABU-Parlament, die Bundesvertreterversammlung (BVV). Die BVV ist das oberste Organ des NABU. Sie ist insbesondere für die Wahl des Präsidiums – alle vier Jahre –, die Verabschiedung des Haushalts und Änderungen der Satzung zuständig. Sie diskutiert und verabschiedet zudem inhaltliche Resolutionen und Grundsatzpositionen.
In die BVV entsenden die Landesverbände insgesamt 240 von den Landesvertreterversammlungen gewählte Delegierte. Die regionale Aufteilung ergibt sich anteilig aus den Mitgliederzahlen der Landesverbände. Organisiert vom Bundesverband, ist in der Regel ein Landesverband Gastgeber der BVV. Nach Dresden, Essen, Hannover und Hamburg findet die BVV 2019 vom 8. bis 10. November in Berlin statt. 2020 wird nach Erfurt eingeladen. Die BVV ist mitgliederoffen, Stimmrecht haben aber nur die Delegierten.
So funktioniert der NABU: Das Präsidium
Das Präsidium ist der Bundesvorstand des NABU und sein zweites Hauptorgan. Es besteht aus Präsident*in, drei Vizepräsident*innen, Schatzmeister*in, Bundesjugendsprecher*in und bis zu fünf weiteren Mitgliedern. Wenn die Bundesvertreterversammlung (BVV) das Parlament ist, ist das Präsidium die Regierung des NABU. Das Präsidium setzt die Beschlüsse der BVV um und führt verantwortlich die Geschäfte des NABU. Wesentliche Aufgaben kann das Präsidium auf die Geschäftsführung übertragen und damit auf die hauptamtlichen Beschäftigten der Bundesgeschäftsstelle.
In welchem Zustand ist der NABU heute?
Schon 120 Jahre alt, aber so gut wie fabrikneu. Der NABU hat sich nicht nur ordentlich gehalten, sondern immer wieder konsequent erneuert und erweitert. Wir sind gefragt wie nie, von der Politik, aus der Wirtschaft, aus der Gesellschaft.
Und der NABU wächst ungebremst. Zum Jahresende werden es wohl eine dreiviertel Million Mitglieder und Förderer sein.
Das zeigt, dass es ein zunehmendes Bewusstsein für die Notwendigkeit gibt, mit der Natur sorgsamer umzugehen. Und ein Vertrauen, dass der NABU sich darum kümmert.
Aber der NABU, das sind nicht nur die anderen, das ist man auch selbst. Jedes Mitglied kann aktiv werden, sogar mitbestimmen.
Das ist der große Unterschied etwa zu Greenpeace oder WWF. Da schlummern übrigens noch unausgeschöpfte Potentiale. Es ist bekannt, dass viele Leute heute nach neuen Formen des Engagements suchen, weniger in festen Strukturen, weniger lange gebunden. Unsere Angebote passen dazu nicht immer.
Dabei ist ein langer Atem gerade im Naturschutz wichtig.
Erfolge von heute auf morgen sind jedenfalls selten. Und wenn sich ein Erfolg einstellt, wie etwa die Rückkehr des Wolfs nach Deutschland, muss man an der Sache dran bleiben. Auch nach fast 20 Jahren ist der Wolf bei uns latent gefährdet und längst nicht überall akzeptiert. Und vom notwendigen flächendeckenden Herdenschutz sind wir noch weit entfernt.
Ein anderes Beispiel ist die Renaturierung der Unteren Havel, einer der tollsten NABU-Erfolge überhaupt. Ohne einige positiv Naturschutz-Verrückte, allen voran Rocco Buchta, und ganz viel Beharrlichkeit wäre daraus nichts geworden. Es fing schon in den 1990ern an, sogar Gesetze mussten geändert werden, dann kam eine jahrelange Planungsphase und jetzt sind wir in der Umsetzung und die Natur erobert die Havel zurück. Neuerdings ist öfters von „Enkeltauglichkeit“ die Rede, auf die Havelrenaturierung trifft das tatsächlich zu.
So steht es auch in der Selbstbeschreibung des NABU: „Wir wollen, dass kommende Generationen eine Erde vorfinden, die lebenswert ist.“ Sind wir also auf dem richtigen Weg?
Da muss man über den NABU hinaus schauen. Es hat sich eine Menge Gutes getan, national wie international. Gerade im Naturschutz. Ob beim Handel mit gefährdeten Arten oder bei der Ausweisung von Schutzgebieten. Gezielter Schutz hat dazu geführt, dass etwa Kraniche und Seeadler von der Roten Liste gestrichen werden konnten. Das sind großartige Erfolge.
Umgekehrt werden Schwalben und Star jetzt auf der Liste geführt…
Genau. Das ist die Kehrseite. Ausgerechnet einstige Allerweltsarten schwächeln. Da rächt sich vor allem die Intensivierung der Landnutzung. Leider war aber auch der Naturschutz zu lange auf Raritäten fokussiert.
Also eine zwiespältige Bilanz?
Gerade wenn man neben der Vielfalt auch auf die Menge schaut. Wir haben in Europa Abermillionen Vögel verloren und bei den Insekten sieht es genauso schlimm aus. Nächstes Jahr findet der große UN-Biodiversitätsgipfel statt. Die Weltgemeinschaft hatte sich für 2020 klare Ziele gesetzt und sie wird sie verfehlen, das ist jetzt schon absehbar. So wie vorher bereits die Ziele für 2010 verfehlt wurden, weltweit, in der EU und in Deutschland.
Wird die Wichtigkeit der Biodiversität, also der Artenvielfalt, der genetischen Vielfalt und der Vielfalt der Ökosysteme, immer noch unterschätzt?
Jedenfalls scheint der Klimaschutz dem Artenschutz den Rang abgelaufen zu haben, im Bewusstsein der Politik und auch in der öffentlichen Meinung. Zu Unrecht und verkennend, dass beides eng zusammenhängt. Man kann geradezu von einer Zwillingskrise bei Klima und Biodiversität sprechen. Der Klimawandel wirkt sich massiv auf die Biodiversität aus, gleichzeitig ist intakte Natur ein wesentlicher Puffer gegen den Klimawandel.
Selbst beim Klimaschutz sind die Ziele in Gefahr.
Die Politik kann von ihren schlechten Gewohnheiten nicht lassen. Erst wird ein Vertrag ausgehandelt und als großer Durchbruch gefeiert, in diesem Fall das Pariser Klimaabkommen, und dann tut man jahrelang nichts, um den Vertrag zu erfüllen. Im Privatleben geht so etwas nicht, in der Politik versucht man es immer noch.
Jetzt bekommen wir aber doch ein Klimaschutzprogramm 2030 und ein Klimaschutzgesetz ist auf dem Weg.
Von denen alle Expert*innen in seltener Einigkeit sagen, dass damit die Paris-Ziele zur Eindämmung des Klimawandels nicht erreichen werden. Mich macht das sprachlos.
Die Regierung argumentiert, so sei nun mal die Demokratie, da gehe es um Kompromisse.
Der Klimawandel verhandelt nicht, er schreitet voran – je später wir etwas tun, desto drastischer werden die notwendigen Maßnahmen. Die Politik hinkt hinterher, sie bietet heute Lösungen für Probleme von gestern an. Um Bernd Ulrich von der „Zeit“ zu zitieren: „Kompromisse sollten nicht in gemeinschaftlich verabredeter Realitätsverweigerung enden. Wenn wir noch ein bisschen so weitermachen, dann geraten die Dinge außer Kontrolle, zurückholen lassen sich weder die Kohlendioxid-Moleküle noch die Mönchsgrasmücke.“
Vom NABU heißt es, er habe sehr gute Kontakte in die Politik, in viele Parteien.
Ja, wir suchen ständig das Gespräch. Für den NABU gilt: So viel Konfrontation wie nötig, so viel Kooperation wie möglich. Wir stellen unsere Ideen vor, versuchen zu beraten und zu überzeugen. Das heißt aber nicht, dass sich am Ende die Argumente pro Umwelt und Natur auch durchsetzen.
Vor allem, wenn es um wirtschaftliche Interessen geht?
Vor allem, wenn es gegen kurzfristige Interessen geht. Umweltschutz ist meist langfristig angelegt, da muss die Politik über eine Wahlperiode hinaus denken. Um dem mehr Gewicht zu verleihen, hilft es, größere Allianzen zu schmieden, mit anderen Umweltverbänden sowieso, aber auch mit Gewerkschaften oder Sozialverbänden. Auch die Wirtschaft denkt übrigens nicht nur in Vierteljahresbilanzen. Immer mehr Unternehmen erkennen, dass sich ökologische Rücksichtnahme auszahlt.
Mit Olaf Tschimpke sprach Helge May.