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Sind Kutteln sexy? Bei uns, wo bevorzugt die vermeintlich edlen Teile eines Tieres, also Schweineschnitzel, Rindersteak oder Hühnerbrust, auf den Teller kommen, jedenfalls nicht. Innereien wie Euter, Nieren oder Pansen, die anderswo auf der Welt als hochgeschätzte Delikatessen gelten, werden in Deutschland allenfalls zu Hundefutter verarbeitet. Aber warum eigentlich? Es sei unanständig, nur Filet zu essen, postuliert die sogenannte Nose-to-Tail-Küche, eine Art des Kochens, bei der das ganze Tier verwertet wird. Die Kunst des ganzheitlichen Kochens verlangt vom Koch allerdings Können und vom Gast ein gerüttelt Maß an Aufgeschlossenheit.
Mit der Aufgeschlossenheit ist es jedoch nicht weit her im modernen Deutschland. Heute möchte der Gast das Tier auf seinem Teller, das für ihn sein Leben gelassen hat, möglichst nicht als solches erkennen. Das hat auf den Speisekarten deutscher Durchschnittsrestaurants zu einer Steak- und Schnitzel-Monotonie sondergleichen geführt, denn beim Genuss einer Fleischscheibe à la Filetsteak oder Schnitzel Wiener Art fällt es leicht, den Bezug zu dem Tier, von dem sie stammt, zu ignorieren. Nach Gerichten mit Innereien wie Herz, Hirn, Lunge, Magen oder Zunge sucht man dagegen meist vergebens, sind diese in ihrer Rohform den eigenen Organen doch zu ähnlich. Verzehrten die Deutschen im Jahre 1984 pro Kopf noch 1.500 Gramm Innereien, waren es 2014 nur noch 150 Gramm.
Kulinarische Freuden jenseits des Filets
Meist sind es die Edelteile aus Keule, Rücken und Lende, die vom Schlachthof in die Supermärkte gelangen. Was übrig bleibt, also der weit größere Teil des geschlachteten Tiers, kommt in die Wurst oder geht in den Export. Innereien, immerhin rund ein Fünftel des Schlachtgewichts, gelten in Deutschland als sogenannte Schlachtnebenprodukte, sie werden allenfalls zu Hundefutter verarbeitet, oft aber auch als Abfall entsorgt.
Dieser Ressourcenverschwendung setzt der britische Sternekoch Fergus Henderson die Philosophie der Nose-to-Tail-Küche entgegen. Sein Buch „The Complete Nose to Tail“, in dem er deren Prinzipien darlegt, ist zu einer Art Bibel der Bewegung avanciert. Es sei eine Frage des Respekts, in der Küche das komplette Tier zu verwerten, heißt es darin. Zudem gebe es eine ganze Reihe „kulinarischer Freuden, was Beschaffenheit und Geschmack betrifft, die abseits des Filets zu finden sind.“
Eine Frage von Kultur und sozialem Hintergrund
Für die Zubereitung schmackhafter Gerichte eignen sich prinzipiell fast alle Teile des Schlachtkörpers – ausgenommen Fell, Borsten, Klauen, Augenlider, innere Gehörgänge und die Einstichstelle zum Entbluten, das Stichfleisch. Die Antwort auf die Frage, welche Teile man als „essbar“ deklariert, wurzelt dagegen in Kultur, sozialem Hintergrund und individuellen Vorlieben. In Frankreich und Italien gelten beispielsweise Kutteln in Form von Tripes à la mode de Caen und Trippa alla Romana als Delikatesse, in Deutschland, wo sie einst fester Bestandteil der Volksküche waren, fielen sie dem drastischen Wandel der Esskultur nach dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer: Heute markieren sie auf der Beliebtheitsskala von Fleisch das untere Ende.
Auch für die Kochkultur in den Restaurantküchen war der Wandel nach dem Krieg ein Einschnitt. Die Kunst des ganzheitlichen Kochens sei zum großen Teil verloren gegangen, klagt Simon Tress, Koch des Bio-Hotels „Zur Rose“ auf der Schwäbischen Alb, der in seiner Küche ausschließlich komplette Tiere verwertet. In der Tat setzt ganzheitliches Kochen viel mehr Wissen, Erfahrung und Fingerspitzengefühl voraus, als es braucht, um ein Schnitzel zuzubereiten. Je „unedler“ ein Stück ist, desto größer Aufwand und Zeit, die es kostet, daraus eine genussvolle Mahlzeit zu bereiten. Weiß man beispielsweise um die richtige Garmethode für Schweinsbäckchen, die vor Bindegewebe nur so strotzen, wird daraus eine Delikatesse mit zartem Schmelz und unvergleichlichem Aroma ‒ weiß man es nicht, nur ein fades Stück Schuhsohle.
Aufgepeppt mit den Mitteln der Moderne
Genau darin sieht Simon Tress seine Aufgabe als Koch: „Ich will Innereien sexy machen“, sagt der 27-Jährige. Beispielsweise, indem er Klassiker der traditionellen Innereienküche mit den Mitteln der Moderne aufpeppt. So wird mithilfe eines Sous-vide-Gargerätes aus der gekochten Rinderzunge, die in den 70er-Jahren in einer schweren, mit Mehlschwitze angedickten und mit Süßwein aromatisierten Sauce schwamm, ein federleichtes Zungencarpaccio. Schweinezunge bereitet Tress nach Art eines Vitello tonnato zu, Lammkutteln serviert er mit getrockneten Tomaten und Pinienkernen. Die liebsten Innereien sind dem geborenen Schwaben jedoch saure Kutteln mit Bratkartoffeln. Mit Rezepten wie diesen gelingt es ihm, auch die gut 90 Prozent Fleisch an den Gast zu bringen, die vom Schlachttier übrig bleiben, wenn man die Edelteile abzieht.
Mit ihrem ganzheitlichen Ansatz ist die Nose-to-Tail-Küche ein Gegenentwurf zu der in den westlichen Ländern grassierenden Lebensmittelverschwendung. Allerdings verlangt sie vom Gast Flexibilität, denn auf den Tisch kommt, was vom geschlachteten Tier gerade da ist. Das können Schnitzel und Steak sein, aber auch Erbsensuppe mit Schweineohr, gebackener Kalbskopf oder Leber Berliner Art. Zweifellos ein Gewinn, erweitert die neue Vielfalt auf dem Teller das persönliche Geschmacksspektrum doch ungemein.
Hartmut Netz
Literatur: Das ganze Tier
Simon Tress, Georg Schweisfurth: Fleisch. Küchenpraxis. Warenkunde. 220 Rezepte. Christian Verlag, 49,99 Euro.
Stéphane Reynaud: Innereien. Feine Küche mit Leber, Herz und Nieren. Christian Verlag, 26,99 Euro.
Fergus Henderson: Nose to Tail. Echtzeit Verlag, 44 Euro.
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