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Es waren die „kleine Rädchen“, die die NS-Kriegs- und Vernichtungsmaschinerie in Gang hielten





Günther Niethammer - Fotograf unbekannt/PMO Dzial III SS neg nr-1907
Wenn der fatale Ortsname nicht wäre, es könnte ein heutiger Bericht zum Vogel des Jahres 2025 sein: „Der Hausrotschwanz ist einer der häufigsten Vögel des Gebiets. Am 29. März gegen 15 Uhr beobachtete ich an einem großen Gebäudekomplex den ersten Rotschwanz. Kurze Zeit nach dem ersten, der einige Male etwas verhalten sang, erschien ein zweiter Vogel. In den folgenden 14 Tagen stellte sich die Art überall ein.“
„Großes Verständnis“
Die Zeilen stammen von Günther Niethammer und stehen so in seinen 1942 in den „Annalen des Naturhistorischen Museums Wien“ erschienen „Beobachtungen über die Vogelwelt von Auschwitz (Ost-Oberschlesien)“. Einleitend schreibt Niethammer:
„In der Zeit von Oktober 1940 bis August 1941 hatte ich Gelegenheit, die Umgebung von Auschwitz kennen zu lernen und dabei besonders auf die Vogelwelt zu achten. In den Herbst- und Wintermonaten und auch im zeitigen Frühjahr ließ mir mein Dienst bei der Waffen-SS nur wenig Zeit zu ornithologischen Beobachtungen. Dagegen konnte ich mich ihnen in der letzten Maiwoche, im Juni und Juli eingehend widmen, wodurch es mir möglich wurde, ein ziemlich vollständiges Bild von den ornithologischen Verhältnissen dieses interessanten und noch ganz unbearbeiteten neuen deutschen Ostgebietes, insbesondere von den hier brütenden Vogelarten, zu gewinnen. Ich verdanke dies dem großen Verständnis, welches der Kommandant des K. L. Auschwitz, SS-Sturmbannführer Höß, und sein Adjutant, SS-Obersturmführer Frommhagen, der wissenschaftlichen Erschließung dieses Gebietes und den Forschungsaufgaben, die der deutsche Osten an die Wissenschaft stellt, stets entgegenbrachten.“
Ein Zoologe will vorankommen
Uns Nachgeboren steht Auschwitz für millionenfachen Mord, für den Holocaust, für deutsche Verbrechen und deutsche Schuld. Niethammer erhofft vom Krieg vor allem die Möglichkeit zu ausgedehnten wissenschaftlichen Expeditionen. Als er nach Auschwitz kommt, ist Niethammer 32 Jahre alt. Er hat Zoologie studiert und 1937, dem Jahr seines Eintritts in die NSDAP, eine Stelle im Bonner Museum Koenig angetreten. Später wechselt er ins Naturhistorische Museum Wien.
Nachdem Niethammer bei der Wehrmacht altersbedingt abgelehnt wird, meldet er sich bei der Waffen-SS. Statt eines Fronteinsatzes wird er jedoch nach Auschwitz abkommandiert. Niethammer wird einer von 7000 Wachmännern, die bis zur Befreiung des KZ durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 dort Dienst tun. Die ersten Häftlinge treffen im sogenannten Stammlager Auschwitz I Ende Mai 1940 ein. Ab Oktober ist Niethammer zunächst im Wachturm direkt am Lagereingang stationiert.
Im Mai 1941 hat sein „Antrag zu Erteilung anderer Dienstpflichten“ Erfolg: KZ-Kommandant Rudolf Höß beauftragt ihn mit der Anlage einer Vogelsammlung für die örtliche Schule und mit vogelkundlichen Untersuchungen der Region. Außerdem versorgt Niethammer Höß und die Lagerleitung mit Wildbret. „Ich bin hier eine Art K. L. SS-Jägermeister, habe mein Gewehr und fahre mit dem Fahrrad draußen rum“, schreibt er in einem Brief.
In der „Zone of Interest“
Das Haus des Kommandanten Rudolf Höß, in dem er mit seiner Familie wohnte, grenzte direkt an die Mauer des Stammlagers. Dass der Massenmörder Höß ein Naturfreund war, der seinen Kindern begeistert seltene Vögel zeigte, wissen auch Nicht-Historiker spätestens seit dem verstörenden, 2024 Oscar-prämierten Spielfilm „Zone of Interest“. Als „Interessengebiet des KL Auschwitz“ bezeichnete die SS eine von den Flüssen Weichsel und Sola begrenzte, rund 40 Quadratkilometer große Sperrzone, in der neben dem Stammlager ab Herbst 1941 auch das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau lag. Hier stellt Niethammer seine Untersuchungen an. Er bewegt sich frei im und außerhalb des Lagers, weiß folglich von Gaskammern, Selektion und Vernichtung.
Ende 1941 wird Niethammer dank Beziehungen zum Oberkommando der Wehrmacht Abteilung Wissenschaft abkommandiert und arbeitet als Zoologe im besetzten Griechenland. Im September 1942 kehrt er für Folgeuntersuchungen noch einmal nach Auschwitz zurück. Danach nimmt er in rascher Folge als Teil des Sonderkommando Kaukasus und später der Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe an Expeditionen teil. Schließlich wird Niethammer Zoologe am Berliner Hygiene-Institut der Waffen-SS.
Nur nicht daran rühren
Nach dem Krieg hofft Niethammer auf eine Abmachung mit den Besatzern, wird aber an Polen ausgeliefert. Dort verurteilt man ihn zu acht Jahren Haft, die Revision macht daraus drei. Im November 1949 ist Niethammer wieder frei.
Und das war es dann. Nicht nur für Niethammer selbst ist die NS-Zeit damit abgeschlossen. Er habilitiert, wird Professor, angesehener Funktionär. Bis zu seinem Tod 1974 rührt weder in der Wissenschaftsgemeinde noch in der Gesellschaft jemand an Niethammers Vergangenheit. Erst Eugeniusz Nowak legt das Bekannte in Vorträgen und 2002 in den „Erinnerungen an Ornithologen, die ich kannte“ wieder offen.
Man kann Günther Niethammer als NS-Täter oder bloß als Karrieristen sehen. Doch es waren jene kleinen Rädchen, darunter 900.000 Angehörige der Waffen-SS, die die Kriegs- und Vernichtungsmaschinerie in Gang hielten. Verbrechen und Normalität bis hin zur „harmlosen“ Vogelbeobachtung gingen dabei zusammen. Zur gleichen Zeit, am gleichen Ort, in der gleichen Person. 80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz und dem Ende des Zweiten Weltkrieges lohnt es sich, daran zu erinnern.
Helge May (aus „Naturschutz heute“ 2/2025)
Buchtipp: Im Januar 2025 erschien von Nicholas Milton „The Birdman of Auschwitz. The Life of Günther Niethammer.“ (Pen and Sword Books Ltd, 256 Seiten, 24,99 Euro).
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