NABU historisch: Vogelfang in Deutschland im Jahre 1913


Am Krammetsvogelherde am Niederrhein.

Es ist Herbstzeit. Mit schönen, sonnigen Tagen wechseln kühle, sternenklare Nächte. Dem kraftvollen Weckrufe zum Leben im Frühjahre ist jetzt die Zeit der Reife und des Erblassens in der Natur gefolgt. Ein allgemeines Abflauen der Lebenskraft macht sich in unseren Breiten bemerkbar. Die große Flucht des Lebens in geschützte Ecken und Winkel, das Streben nach Erhaltung des Daseins bringt allenthalben die sonderbarsten und auffallendsten Veränderungen in unserer Umgebung hervor, und in diesem Rahmen des wechselvollen Bildes des Naturlebens im Herbste ist der Vögel Flucht nach dem Süden ein von Menschen oft durchdachtes, ungeklärtes Rätsel.

Dem Jäger ist dieser herbstliche Vogelzug nach den sonnigen Gefilden der Mittagsgegenden mehr wie jedem anderen Menschen interessant; denn er bringt ihm ja für seine Betätigung die denkbar schönste Abwechslung in Schnepfensuche und Entenstrich, in reizvollen Stöberjagden auf Bekassinen und daneben mancherlei zufälligen Strecken seltener Vögel. Endlich stehen für ihn auch noch Hüttenjagd mit dem Uhu und der Krammetsvogelherd in Aussicht. Dem letzteren soll unser heutiger Besuch gelten.

Augenblicklich gibt es im Deutschen Reiche nur noch wenige Gegenden, in denen der Krammetsvogelfang auf dem Vogelherde betrieben wird. Ehedem war der Herdfang weit verbreitet und erstreckte sich auf die verschiedensten Vogelarten. Diese Fangart nahm aber stetig ab, als sich die Vogelscharen immer mehr verminderten und gesetzliche Bestimmungen den Netzfang der Vögel einschränkten. Fortwährend schwand in der Folgezeit die Anzahl der Vogelherde auf stiller Heide und ruhigen Berghängen.

An den Niederrhein kam der Krammetsvogelherd durch eingewanderte Pfälzer. An der rheinisch-westfälischen Grenze entlang stand er bis vor wenigen Jahrzehnten noch in hoher Blüte. Nachdem aber durch die neue preußische Jagdordnung vom 14. Juli 1904 die Krammetsvögel jagdbar erklärt wurden, ist ihre Anzahl arg zusammengeschmolzen.
Im Betriebe des Vogelherdes liegt eine gewaltige Poesie. Wer auf ihm die stillen Stunden in der Morgenfrühe schöner Herbsttage genossen hat, wird sie nie vergessen und noch manchmal des beschaulichen Daseins in der Vogelherdhütte gedenken.

Es ist gegen Ende Oktober. Wir treten ein in die einsam am Waldrande liegende, schlichte Behausung eines Vogelherdfängers auf der Königshardt bei Sterkrade. Völlig dunkel ist es noch draußen, und erst in einer Stunde wird das Morgenrot die Geburt eines neuen Tages verkünden. Wir finden den alten Vogelfänger bei der Fütterung seiner Lockvögel in der Vogelkammer. In einem großen, aus Weidenzweigen selbst geflochtenen Tragkorb setzt er jetzt etwa ein halbes Dutzend kleine, hölzerne Vogelbauer, in denen sich Drosseln der verschiedenen Arten als Insassen befinden, je eine in einem Käfig. Drei an gedrehte Roßhaarschnüre gefesselte Flattervögel kommen in kleine Leinensäckchen und werden außen an die Vogelkiepe gehängt, an der sich auch schon das große Schlagnetz mit den Stricken und Zugleinen befindet. Schnell rührt jetzt noch der Vogelherdfänger in einem Topfe einen Brei aus geschrotetem Gerstenmehle und Milch als Futter für seine Vögel zurecht, und dann wird auch dieses Gefäß mit einer Flasche voll Trinkwasser verpackt. Der Alte steckt sich seine Pfeife an, hebt den Tragkorb auf den Rücken, läßt die Tür ins Schloß fallen, und dann geht es hinaus in den frischen Herbstmorgen.

Eine Zeitlang folgen wir einem breiten Fahrwege und betreten dann einen schmalen Waldpfad, der nach knapp halbstündiger Wanderung auf einem nach Nordosten mäßig geneigten Abhange endet. Dort taucht im Dämmerlicht mitten auf großer, freier Fläche der Vogelherd auf. Erleichtert atmet der alte Fänger auf, als er die Traglast abgehakt hatte. Sofort geht er an die Herrichtung des Fangapparates.

Im Osten schimmert bereits ein schwaches Aufleuchten. Aus der Dunkelheit heraus sollte bald der neue Tag geboren werden. Hin und wieder ziehen Vögel an uns vorüber. Ihre Stimmen veranlassen auch die Lockvögel zu antworten. Zu sehen ist aber noch nichts. Eifrig packt der Vogelherdfänger die Sachen aus, setzt das Schlagnetz zwischen eine Hebelvorrichtung, zieht die Zugleinen an, hängt die Käfige mit den Lockvögeln auf ihre Plätze, befestigt die Flattervögel und gibt ihnen allen noch schnell Gerstenbrei und Wasser.

Unterdessen haben wir Muße, uns das schmale Futterbeet mit den schwarzen Wacholder- und roten Ebereschenbeeren einmal näher anzusehen. Wir bewundern die Einfachheit des Schlagwerkes, machen uns die Bedeutung der Einfallbäume klar und kriechen dann schließlich mit dem Vogelfänger in die Vogelherdhütte, die halb versteckt in der Erde liegt.

Wir hatten einen schönen Tag zu erwarten. Der Kampf der aufgehenden Sonne mit den Nebelmassen hatte begonnen. Wie weiße Riesenschleier zog das leichte Gewölk über den Heidegrund, ballte sich, ging wieder in feinen Tautropfen auseinander, strich weiter, immer mehr sich auflösend, um schließlich Grasspitzen und dünnes Geäst zu schmücken. Und nun brach die Sonne siegreich mit ihren goldenen Lichtpfeilen durch, und im Augenblick erglänzten in gebrochenen, zerlegten und zurückgeworfenen Lichtstrahlen die kristallhellen Wassertröpfchen in feenhafter Regenbogenfarbenpracht. Ein leiser Windhauch fegte das Gelände völlig blank.

Plötzlich wird es lebhaft unter den Lockvögeln. Die alte Schildamsel läßt ihre Stimme erschallen. "Zi, zi!" meldet sich jetzt auch eine Weindrossel. "Tschack, tschack, tschack, hie schäckschäckschäck!" erklingt in die Morgenstille hinaus der weithin vernehmbare Ruf des Doppelvogels. Es müssen Krammetsvögel im Anzuge sein. Lauernd stehen wir am Ausguck und suchen mit unseren Blicken den nordöstlichen Horizont ab. Aha, da naht sich ein Drosselzug! Immer lebhafter werden die Lockvögel. Jetzt läßt der Fänger auch die Flattervögel spielen, indem er mit Hilfe von Bindfäden verschiedene Hebel hochzieht, so daß die Vögel flattern müssen. Der Zweck ist erreicht. Rauschend läßt sich ein Zug Weindrosseln ins dürre Geäst der Einfallbäume nieder. Wir liegen mäuschenstill an den seitlichen Gucklöchern der Vogelherdhütte und beschauen uns die nordischen Wanderer: Schmucke Gestalten sind es, wahre Grazien Faunas. Jetzt wendet einer von ihnen neugierig das niedliche Köpfchen. Unten sieht er auf dem Beete des eigentlichen Vogelherdes die taufeuchten, glänzenden Beeren der Eberesche und die so sehr geschätzten, blauschwarzen Früchte des Wacholders. Er fliegt hinab und fängt hurtig an zu picken. Bald folgen ihm andere Kameraden nach. Einige aber hüpfen mißtrauisch bis auf die unteren Zweige.

Schließlich aber lassen Hunger und Futterneid jede Vorsicht außer Acht. Auch der Rest des Vogelfluges fliegt auf den Beerenwall und damit hinein ins sichere Verderben. Leise bebt das Kinn des Vogelfängers in leidenschaftlicher Aufwallung. Seine Augen haben einen unheimlich glänzenden Ausdruck angenommen. Mit größter Spannung hat er jede Bewegung der Vögel verfolgt. Eine unausgesprochene Gier liegt in seinen Blicken. Jetzt faßt er mit fester Faust die Zugleine. Ein kräftiger Ruck - und schon eilt er mit Katzengeschwindigkeit nach draußen zu seiner Beute. Das Schlagnetz deckte einige Dutzend der vorher so frohen Wanderburschen, die sich ängstlich kreischend immer tiefer in die Maschen des Netzes einwühlen. Mit raschem Griff wird ein Vogel nach dem anderen durch Eindrücken der Hirnschale des Hinterkopfes getötet. Nur zwei Drosseln werden lebend in Säckchen gesteckt, um später als Lockvögel Verwendung zu finden. Anfangs flattern solche Vögel im Käfig gegen die Stäbe ihres Gefängnisses. Nach und nach aber ergeben sie sich in ihr hartes Geschick. Wenn sie dann schließlich auf dem Vogelherde ihre Stimmen erschallen lassen, dann freut sich der Vogelfänger, daß sie soviel "sagen" und daß sie das Geschäft so gut und schnell "gelernt" haben.

Nachdem die getöteten Vögel in die Hütte gebracht und der Fangplatz von abgeflatterten Federn fein gesäubert war, wurde das Netz von neuem fängisch gestellt. Alles muß sich möglichst schnell abspielen: denn die Zeit ist hier Geld. Kaum sind wir wieder in der Herdhütte, da spielt das Gelock abermals. Wieder werden die Flattervögel hoch gezogen, und gleich nachher sitzen zehn Meeramseln in den Einfallbäumen. Auch von ihnen müssen neun ihre Unvorsichtigkeit mit dem Leben büßen. Nur eine war nichts ins Garn gegangen. Mißtrauisch betrachtete sie die verlockend aussehende Beerentafel von oben. Vielleicht kannte sie aus Erfahrung die drohende Gefahr; denn es ist gewiß, auch der Vogel hat Gedächtnis für überstandene Gefahren und weiß durch mancherlei Listen ihnen zu entgehen, was jeder Jäger und jeder Vogelsteller zur Genüge wohl erfahren hat.

Bis gegen neun Uhr morgens dauert in der Regel der Krammetsvogelfang. Wie uns der alte Vogelfänger erzählte, war der Fang in seiner Jugend viel besser. Hieß doch das Kirchweihfest auf der Königshardt die Krammetsvogelkirmes. Wer sie besuchte, bekam noch vor zwanzig Jahren für wenige Pfennige gebratene Krammetsvögel vorgesetzt. Diese Zeiten sind gewesen. Heutzutage ist der Krammetsvogel eine ausgesprochene Delikatesse. Sein Fang auf dem Vogelherde auf weitabgeschiedenen, kulturfernen, einsamen Heidegründen wird in unseren Tagen fast durchweg nur noch als vornehmer Sport betrieben.

Hugo Otto (Mörs)

Quelle: General-Anzeiger Düsseldorf vom 24. November 1913

Anmerkung: Die Königshardt nördlich Sterkrade liegt am Südrand des heutigen Naturparks Hohe Mark.